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Der Brockenwicht: Seite 71
Es war gar nicht so verkehrt, dass ich das Telefon weggeworfen hatte, stellte ich fest, denn ich scheute allein schon die bloße Vorstellung, was passiert gewesen wäre, wenn ich mit dem Daumen zufällig auf »Betreten« gedrückt hätte. Den Ort wollte ich unter gar keinen Umständen besuchen. Der Weg verschwand unter dem Spiegel, oder was auch immer es war, und ich wusste indessen, was ich tun musste, um weiterzukommen. Ich zögerte keine Sekunde. Diesmal ließ sich die gläserne Wand nur nach links schieben, aber welchen Unterschied machte es schon, es musste nur möglichst zügig gehen, denn wenn ich an die umfangreiche Liste der Veranstaltungen in der Mitteilung dachte, vermutete ich, es war nicht das letzte Hindernis auf dem Weg in die Freiheit. Ich sollte recht behalten. Den nächsten Spiegel sah ich gleich, nachdem sich der Durchgang so weit geöffnet hatte, dass ich meinen Kopf durchstecken konnte. Ich unternahm noch die letzte Anstrengung und flutschte durch. Ein ganz anderes Bild bot sich meinem Blick. Der große Schulungsraum, den ich zu Gesicht bekam, war voller Hexen, Trolle und Fabelwesen. Groß und Klein, Jung und Alt, Schön und Hässlich – alle saßen im Halbkreis ausgestattet mit Stift und Notizblock und richteten auf den Mann am Rednerpult ihre volle Aufmerksamkeit. Es referierte der Teufel höchstpersönlich. Ich konnte nicht hören, welche Weisheiten er dem Hexenpublikum verkündete, aber ich hätte es mir denken können. Allem Anschein nach handelte es sich um eine Unterweisung von Neuzugängen zu der Armee der Fake-News-Trolle. Möglicherweise aber auch um ein Seminar für besonders qualifizierte Kräfte der Unterwelt, die sich unmittelbar unters Volk mischen sollten, denn alle Teilnehmer sahen ziemlich menschlich aus, ich konnte kein übermäßig abstoßendes oder entstelltes Gesicht entdecken. Und, o Schreck, in der ersten Reihe saß die Halbhexe, die vorhin von den Zerbolten beinahe zerfleischt worden war. Sie trug immer noch das blutverschmierte Nachthemd und war barfuß, aber ihr Gesicht strahlte Glück und Wonne aus, wenn sie den Redner mit ihrem dankbaren Blick wie einen Erlöser ansah. Ich glaubte, sie hatte nun das erreicht, was sie schon immer gewollt hatte – zur Vollhexe erhoben werden. Es war nicht zu fassen … Weiter! Ich musste weiter, der Kleinen konnte ich nicht mehr helfen.
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Ich kam gar nicht mehr nach mit dem Zählen, eine Spiegelwand folgte der anderen, die Bilder wechselten mit jeder weiteren Wegsperre und ich achtete nicht mehr genau darauf, was ich im Einzelnen sah. Unentwegt schob ich wie ein Verrückter die Riesenspiegel verzweifelt hin und her, um den nächsten Durchgang zu öffnen, und kämpfte mich mit der Beharrlichkeit eines Wahnsinnigen durch dieses bizarre Labyrinth. Schließlich wusste ich nicht mehr, was ich wo und wann gesehen hatte. Nur unscharfe Bilderfragmente drehten sich in meinem Kopf in einem wilden Durcheinander, wenn ich versuchte, das Erlebte zu rekonstruieren. Bald schwirrte durch meinen Schädel eine Reihe von kriminell aussehenden Gestalten in roten Baseballkappen und bald hielt der osmanische Sultan seinen Vasallen eine Standpauke, mal glaubte ich zu sehen, wie sich ein internationaler Medienmogul und der frisch ins hohe Amt gewählte russische Zar verbrüderten und per Handschlag irgendwelche Geschäfte besiegelten und mal kam es mir vor, dass ich bei dem vertraulichen Gespräch zwischen Mephisto und dem großen, weisen Vorsitzenden aus dem Reich der Mitte anwesend war – er solle doch, bat Mephisto den Letzteren inständig, noch ein weiteres Mal Einfluss auf seinen staatlichen Technologiekonzern nehmen und ein paar Manipulationswerkzeuge in die Gadgets einbauen lassen. Aufgrund meiner jüngsten Erfahrungen war es mir durchaus bewusst, dass die Mächtigen dieser Welt, auf die eine oder andere Weise mit dem Bösen im Bunde sein mussten, aber abgesehen von diesem Bewusstsein hatte ich nichts in der Hand, ich wusste nicht einmal, ob meine Visionen überhaupt der Wahrheit entsprachen und sich die Dinge in der Form ereignet hatten. Nichtsdestotrotz wusste ich sofort, dass ich die letzte Spiegelwand erreicht hatte, als sich in einer der Schleusen ein Schimmer der Hoffnung durch die Ritze zwischen dem Schiebespiegel und den Betonplatten zeigte – das Licht der Außenwelt! Aus letzter Kraft schob ich die Wand beiseite. Ich war raus aus der Hölle! Freiheit! Ich erblickte die Freiheit, sie blendete mich mit ihrem gleißenden Licht. Gierig atmete ich ihren betörenden Duft ein, griff in meiner Vorstellung krampfhaft nach der zerbrechlichen Imagination und versuchte, sie mit beiden Händen festzuhalten, während ich noch eine Weile regungslos dastand, bis sich meine Augen an das Tageslicht gewöhnt hatten, genau auf dem Gleis der Schmalspurbahn, an der Stelle, wo der Hirtenstieg sie querte. Vorne auf dem Betonwabenweg wanderte Geli, bemerkte ich, nachdem ich mein Sehvermögen in vollem Umfang wiedererlangt hatte, sie war auf halber Strecke zwischen den Bahnschienen und dem Rundweg um den Brockengipfel – dem magischen Kreis. Sie war nicht weit entfernt, aber sie hätte mich vermutlich nicht hören können, wenn ich nach ihr gerufen hätte. Der sehr frische Wind hätte den Klang meiner Stimme in die falsche Richtung getragen. Obgleich mich das Tageslicht zunächst geblendet hatte, stellte ich nunmehr fest, dass der Sonnenschein von heute Morgen endgültig Geschichte war. Eine tiefhängende Wolkendecke zog über den Berg hinweg angetrieben vom kräftigen Seitenwind und brachte feine Regentröpfchen im Gepäck, die meine rechte Körperhälfte bereits etwas nass hatten werden lassen. Die Regenjacke war im Rucksack, erinnerte ich mich.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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