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OPEN DIGITAL LITERATURE PROJECT
Der Brockenwicht: Seite 68

»Verstehe. Ich bin ja auch dran. Es ist jetzt etwas schwierig, bei der Coronaseuche ist im Sommer Flaute, aber warte ab, bis der Herbst kommt! Dann werden die Trottel wieder durch die Straßen ziehen und grölen: ›Wir sind das Volk! Coronadiktatur!‹ Hahaha!«

»Klar. Aber trotzdem«, kam die abstoßende Katze auf seine Frage zurück, »mit Minerva, der Junghexe von den Neuzugängen, haben wir ein paar Dutzend Mädchen in geschlossenen Gruppen schon dazu gebracht, sich ein Pentagramm in die Schulter zu ritzen. Vielleicht kannst du sie alle bald unten am Berg begrüßen. Dumme Ziegen! Aber was willst du machen? Dem Chef gefällt dieses Frischfleisch!«

»Ja, unser Chef ist genial!«, erwies der vornehm gekleidete Waran den gebührenden Respekt seinem Herrn vom Dienst. »Die sind ja auch alle blöd! Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach ist, die Leute in die Irre zu führen: Je unglaublicher der Blödsinn ist, den man ihnen erzählt, desto mehr sind sie bereit, ihn zu glauben! Der Chef ist genial! Wir beherrschen bald die ganze Welt!«

Mit Entsetzen hörte ich dem Gespräch zu. Mir offenbarte sich langsam der verborgene Zusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklung des letzten Jahrzehnts in der ganzen Welt mit all dem, was ich gerade auf dem Blocksberg im Harz erlebte. Ich hatte mich schon oft gefragt, woher um Himmels willen neuerdings der unergründbare Drang der Menschheit herrührte, sich von einem autoritären Herrscher regieren zu lassen, sich aus freien Stücken dem Willen eines Despoten zu unterwerfen und auf das angeborene Recht auf Freiheit zu verzichten – im Tausch gegen suggerierte Sicherheit und zweifelhafte Versprechen des florierenden Wohlstandes, der über einem hereinbrechen sollte, wenn man den weisen Geboten des Führers folgte. Jetzt hatte ich die Antwort auf meine Frage gefunden. Der Sinneswandel hatte keineswegs eine natürliche Ursache. Das Bewusstsein der Menschen wurde manipuliert und zwar genau von diesen abscheulichen Kreaturen, die hier hinter ihren Bildschirmen saßen. Der verflixte Urian vom Brocken hatte sein verachtungswürdiges Werk nicht erst gestern angefangen. Während sich das intellektuelle Publikum immer noch die Köpfe darüber zerbrach, wo der Ursprung der populistischen Plage zu suchen sei, hatte das Böse bereits Abertausende, wenn nicht Millionen pöbelnde Anhänger auf seine Seite gebracht, und der Wahnsinn verbreitete sich wie ein Lauffeuer – der Pöbel hatte mit der Verbreitung von neuen Medien und Netzwerken eine weltweite Bühne bekommen. Sogar in meinem nächsten Bekanntenkreis wurden schon Stimmen der Leute laut, die ich seit eh und je als vernünftig eingeschätzt hatte. »Das ist das Verständnis dieser Bürger von einer Demokratie, man sollte es ihnen lassen«, rechtfertigten sie den anfänglich noch leicht bräunlichen Anstrich der wiederaufgebauten Ideologeme, als hätte noch nie einer etwas von ihnen früher gehört und wusste nicht, woher sie kamen und wohin sie führten – zur Errichtung einer Diktatur. Ja, sicher, man hätte, wenn man wollte, auch das menschliche Ableben als Übergang von organischer Materie in einen neuen qualitativen Zustand bezeichnen können. Dennoch blieb der ewige Schlaf ungeachtet aller abweichenden Definitionen das Ende eines Menschen, und ein alternatives Verständnis der Volksherrschaft stellte zwangsweise nichts anderes dar als ihre Umwandlung in ein qualitativ neues gesellschaftliches System, mit anderen Worten: Ihren sicheren Tod. Es war nun mal eine feste Größe mit ganz bestimmten Eigenschaften, deren Veränderung unweigerlich in den Sumpf des Autoritarismus führte, ehe die Gesellschaft in der braunen Brühe einer Diktatur versank. Oder was nützte ein Parlament, falls es noch eins gab, wo Verwandte und treue Gefolgsleute des Oberpredigers Gesetze abnickten, die er zuvor vorgelegt hatte? Welchen Sinn hatten Richter, deren einzige Aufgabe darin bestand, Leute einsperren zu lassen? Wozu brauchte man die Polizei, die nur ein einziges Ziel vor Augen hatte, Andersdenkenden das Maul zu stopfen? All das würde unausweichlich eintreten, sobald auch nur ein klitzekleines Detail aus dem fragilen Gefüge der Bausteine einer Demokratie entfernt worden wäre. Die ersten Versuche einer Demontage wurden zwar in der Regel für alle sichtbar vorgenommen, doch schenkte ihnen kaum einer Beachtung – so unbedeutend, so nebensächlich schienen die Veränderungen zu sein. Wenn man aber bedachte, dass bei dem einen oder anderen Autokraten zwischen einer auf den ersten Blick harmlosen Änderung des Grundgesetzes, die ihm erlaubte, nur ein einziges Jahr länger im Amt zu bleiben, und der kniefälligen Nachsuchung des dankbaren Volkes um seine lebenslange Regentschaft nicht einmal zehn Jahre lagen, sollte man sich schon allerhand Gedanken machen, wenn Kräfte am Werk waren, die offen grundlegende demokratische Werte infrage stellten, und der Mob sich gerne an diesen Ideen berauschte. »Aber diese Menschen gehören auch zur Demokratie!«, fuhren dann gewöhnlich meine Opponenten fort in ihrer Argumentation. »Gewiss«, stimmte ich stets zu, denn es war denkbar schwer, wenn nicht unmöglich, etwas dagegen einzuwenden. Allerdings geriet manch einer von meinen Diskussionsgegnern ins Grübeln, wenn ich die Betrachtungsweise umkehrte: »Gehört denn auch Demokratie zu diesen Individuen?« Sie schwiegen meistens nachdenklich.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes

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Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.844
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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