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Der Brockenwicht: Seite 59

»Schauen Sie …«, fing ich den Satz an, mit dem ich bei der jungen Frau gewisse Zweifel an der Richtigkeit der Lehre der »patriotischen Europäer« auslösen wollte, und verstummte im nächsten Augenblick. Ich begriff, dass das Mädchen für meine Argumente unzugänglich war. Sie stand unter dem Einfluss einer der zahlreichen Facebooksekten, deren dubiose Wortführer meistens in geheimer Mission durch die Weiten des Internets zogen, um Lügen, Verschwörungstheorien und Chaos in den Köpfen der naiven Zeitgenossen zu verbreiten, getarnt als unabhängige, objektive und rein private Meinung, obgleich sie es in aller Regel für Geld taten. In Wirklichkeit waren sie nichts anderes als Werkzeuge in den Händen derselben politischen Akteure, die auf ihren Veranstaltungen Fremdenhass predigten. Ich glaubte, ich hätte die gute Frau augenblicklich nicht umstimmen können, zu viel von der braunen Hassbrühe war schon in ihr junges Gehirn injiziert worden, es brauchte Zeit, um es wieder sauber zu bekommen.

Zum Glück setzte sich die Straßenbahn wieder in Bewegung und ich stellte mit Erleichterung fest, dass ein Polizeiwagen aus der Gegenrichtung mit Blaulicht zur Unfallstelle eilte. Die vermeintlichen Flüchtlinge, oder wer auch immer die Männer waren, schienen vorerst vor dem pöbelnden Mob sicher zu sein. Auch das Mädchen wechselte plötzlich das Thema, sobald sich das Bild hinter dem Fenster geändert hatte.

»Aber sonst hammer eene sehr schöne Stadt!«, teilte sie auf einmal mit. »Schon lange hier? Wo wohnse? Was hammse gesehen?«

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Das Geheimnis des vernebelten Passes

Das Geheimnis des vernebelten Passes

Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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Sie plapperte in einem fort und stellte ihre Fragen, ohne einem die Möglichkeit zu geben, wenigstens eine davon zu beantworten. Kaum war ich dazu gekommen, einen halben Satz einzuschieben, weil sie Luft holen musste, – »Wir sind hier zu Besuch und machen grade eine …« – da redete sie schon wieder wie ein Wasserfall. Sie erkannte in mir wohl auch einen Fremden, aber da ich nicht arabisch aussah, war sie zuvorkommend nett und lächelte mich die ganze Zeit an, während sie mir im Schnelldurchlauf unaufgefordert ihr ganzes Leben erzählte. Nachdem sich der verbale Sturm gelegt hatte, wusste ich, wer und was ihre Eltern waren und dass sie vom Land kam und in die Stadt gezogen war, um eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen, dass es ihrer Oma nicht mehr so gut ging und ihr Freund ebenfalls in ihrem Krankenhaus lag, dass sie aus ihrer Wohnung geflogen war und noch tausend andere Sachen, die ich mir nicht mehr merken konnte.

»Was ist denn ihrem Freund passiert?«, wollte ich meine Anteilnahme ausdrücken.

»Er hatte einen Schlaganfall und kann seine Beine schlecht bewegen.« Sie sagte es ganz sachlich und emotionslos, auf jeden Fall nicht auf eine Weise, die ihre tiefe Betroffenheit zum Ausdruck brachte, als ob sie keine besondere Trauer diesbezüglich empfunden hätte. Stattdessen lächelte sie kokett in meine Richtung und wollte gerade mit ihrem Lebenslauf fortfahren, als sich meine Frau zu Wort meldete.

»Und wie alt ist Ihr Freund?«, fragte sie trocken.

Das Mädchen sah Geli verblüfft an.

»Er is dreinfuffch«, drückte sie leise aus sich heraus, als sie verstanden hatte, dass wir zusammengehörten.

»Mmh«, gab Angelina von sich. »Das tut mir wirklich leid mit Ihrem Freund.«

Ich war irritiert. Junge Frauen, die sich älteren Herrschaften an den Hals warfen, hatte ich bis jetzt nur im Fernsehen erlebt. Nun saß eine davon direkt neben mir. Sie hatte zweifellos mit mir vorhin geflirtet und ich hatte es auch gewissermaßen genossen, dass sie mir Avancen gemacht hatte. Sie war auf Männerfang, wenn ich es richtig verstand. Ihr Lebenspartner war im Krankenhaus und würde vermutlich noch für lange Zeit, wenn nicht für immer, behindert bleiben, und sie bemühte sich unterdessen um eine neue Partnerschaft. Ob ihre Vorliebe für ältere Männer nur reines Kalkül war oder ihr in den Kinderjahren eine Vaterfigur gefehlt hatte, oder ob sie aufgrund ganz anderer Überlegungen die Nähe von lebenserprobten Herren suchte, blieb ihr Geheimnis. Dennoch hatte meine Frau mit ihrem weiblichen Instinkt diese Absichten unabhängig vom Grund sofort erkannt und in das Geschehen eingegriffen. Die angehende Krankenschwester verlor auf der Stelle jegliches Interesse an der Fortsetzung ihrer Lebensgeschichte, sie saß schweigsam auf ihrem Platz und sah zum Fenster hinaus, bis die Straßenbahn zehn Minuten später am Hauptbahnhof angehalten hatte und sie ausgestiegen war, ohne sich verabschiedet zu haben.

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.844
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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