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Der Brockenwicht: Seite 53
»Das stimmt allerdings«, räumte der Griesgrämige ein. »Wir sind mit meiner Frau vom Bahnhof zuerst zur Spitze gegangen, dann das Brockenhaus besichtigt und erst dann … Nein, falsch! Wir hatten noch eine halbe Stunde bis zum Zug nach unten und sind zum Brockenwirt gegangen, ich habe sie dort am Tisch mit ihrem Kaffee sitzen gelassen, weil ich noch die einfahrende Dampflok fotografieren wollte. Und erst dann, als ich schon auf dem Ringweg stand, bekam ich den Anruf. Also unmittelbar vor der Rückfahrt.« »Und wie war es bei Ihnen?«, erkundigte ich mich bei Markus und seiner Freundin. Sie antwortete, ohne zu zögern, als ob sie schon seit einiger Zeit darüber intensiv nachgedacht hatte: »Nee, mir warn eegntlich ni mehr uff dem Gipfel! Stimmt, Markus?« »Na ja, nicht direkt auf dem Gipfel, aber noch ziemlich weit oben – wir waren den Hirtenstieg erst bis zu den Bahnschienen hinuntergelaufen, als die Meldungen kamen. Wir wollten nämlich über den Teufelsstieg nach Bad Harzburg wandern.« »Nu«, redete seine Freundin dazwischen, »Markus kann ni na obn, er hatte een Schlaganfall und zieht immer nor ee Been nach. Deswegen sind mir erst überhaupt mit der Bahn gekommen, um dann na unten zu wandern. Na obn hätte ers ni geschafft!« »Wir sind eigentlich«, fuhr der Mann fort, nachdem er sie unzufrieden angesehen hatte, »gar nicht so weit vom ursprünglichen Kurs abgekommen. Das hier ist ein Teilstück des Teufelsstiegs und der Rastplatz mit der Schutzhütte heißt Eiserner Tisch. Da ist die Infotafel neben der Hütte – steht alles drauf! Ich verstehe bloß eins nicht: Warum mussten wir noch durch den Wald wandern? Wir hätten doch einfach den Hirtenstieg hinuntergehen können.« »Hatte jemand im Wald das Gefühl, beobachtet zu werden?«, warf der Griesgrämige seine Frage in die Runde. »Nein«, erwiderte der sportliche Wanderer. »Dafür fühle ich mich jetzt beobachtet. Ich weiß nicht, ob es Einbildung ist, aber es kommt mir vor, dass ab und zu hinter den Bäumen ein Paar Augen aufblitzen, wenn sie das Licht des Feuers reflektieren. Es ist ganz seltsam.« Der Pessimist fühlte sich in seiner Annahme bestätigt. »Dieses Aufblitzen hatte ich im Wald auch ohne Lagerfeuer gesehen, es stimmt. Es ist wohl keine Einbildung! Welcher Teufel hat mich überhaupt geritten, als ich mich auf diese Abwege begeben habe?«
(?)
Ich befürchtete, ich wusste, welcher Teufel es war. Ich kannte ihn sogar beim Namen. Das Unerfreuliche dabei war nur: Wie konnte ich dem Mann es begreiflich machen, dass er ihn vorhin schon selbst gesehen, aber in ihm nicht seinen Plagegeist erkannt hatte? Ich konnte doch den Leuten hier nicht allen Ernstes die Geschichte von Faust und seinem Widersacher auftischen – mit Hexen in der Walpurgisnacht und allem Drum und Dran! Sie hätten mir einen Vogel gezeigt! »Und ganz unheimlich wurde es, wenn Nebel aufzog«, fuhr der Griesgrämige fort. »Dann leuchteten die roten Punkte in der Dunkelheit besonders intensiv und ich hatte immer den Eindruck, dass etwas Unsichtbares mein Gesicht berührt. Etwas, was sich nass und kalt anfühlte! Nass und kalt!« »Hörnse uff!«, flehte ihn die junge Frau an. »Mir wird gruslich. Es zieht tatsächlich Nebel uff.« In diesem Augenblick bemerkte ich ebenfalls, dass eine dichte Nebelbank langsam, aber sicher den Rastplatz unter sich begrub, doch meine Aufmerksamkeit galt in erster Linie dem, was der Mann gesagt hatte. Nass und kalt …? Nass und kalt? Das hatte er schon zum zweiten Mal gesagt, wenn ich mich nicht irrte. Dieses »nass und kalt« hatte ich schon irgendwann vor langer Zeit mal gehört, oder? Ich sah mir den Mann noch einmal genauer an. In meinem Kopf ratterte die Erinnerungsmaschine, sie zählte rückwärts die Tage, Monate und Jahre meines Lebens und zeigte mir verschwommene Bilder von vergessenen Orten und Menschen, denen ich irgendwann begegnet war, als die laufenden Zahlen auf der Anzeige urplötzlich mit einem knatternd klingelnden Geräusch einer Registrierkasse stehen blieben und mir das Jahr zweitausenddrei anzeigten. Auf dem Bild, das dazu geliefert wurde, sah ich einen Doppelbungalow in einer gepflegten Ferienanlage. Auf einer der Terrassen stand der Mann mit dem mürrischen Gesichtsausdruck und unterhielt sich durch die geöffnete Tür mit jemandem, der sich im Haus aufhielt. Es war windig und kühl, die See war aufgewühlt, große Wogen donnerten auf den sandigen Strand und es tröpfelte leicht vom wolkenverhangenen Himmel. Der Mann sagte ausdrucksvoll: »Es ist nass und kalt! Nass und kalt! Mussten wir denn im Januar nach Tunesien reisen?«
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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