|
Der Brockenwicht: Seite 37
Wir hielten Rat. Nach kurzem Hin und Her wurde beschlossen weiterzuwandern, so lang, bis wir noch genug Proviant für den Rückweg hatten. Unsere Vorräte hätten vermutlich für eine Woche gereicht, mit Instantsuppen hatten wir uns reichlich eingedeckt und es lag noch einiges an Konservendosen in den Rucksäcken. Zurück wollte keiner. Ich fühlte mich in der von mir vor Monaten getroffenen Auswahl der Wanderrichtung bestätigt, sobald wir das verhängnisvolle Dorf verlassen hatten. Gleich hinter dem letzten Haus an der Ortsgrenze fing die Wildnis an. Man konnte nicht behaupten, dass die Natur absolut unberührt war, aber das Bild entsprach im Wesentlichen meiner Vorstellung von einer mäßig bewaldeten Gegend in ihrem natürlichen Zustand. Zwischen sonnendurchfluteten Birkenhainen, wo die Bäume noch nicht in Reih und Glied standen, sondern eher das natürliche Durcheinander bevorzugten, erstreckten sich sagenhaft schöne Wiesen und Weiden mit saftigen Gräsern, die noch nicht die Bekanntschaft mit landwirtschaftlichen Maschinen gemacht hatten. Zwei Spurrillen einer unbefestigten Feldstraße schlängelten sich zwischen den allmählich immer dichter zusammenrückenden Wäldern und erinnerten an die Nähe der menschlichen Zivilisation. Der Weg führte in die gewünschte Richtung, soweit ich beurteilen konnte. Wir hatten zwar keinen Kompass mehr, aber die Sonne schien uns an diesem frühen Nachmittag überwiegend in den Rücken, was nur bei einer Wanderung in nördlicher Richtung der Fall sein konnte, wenigstens in diesen Breiten. Mit dieser steinzeitlichen Navigationsmethode mussten wir nunmehr vorliebnehmen. Nach zwei Stunden tauchte vorn eine Erhebung auf, die sofort an einen Straßendamm denken ließ. Unser Feldweg querte das merkwürdige Hindernis, das sich von links nach rechts über das ganze Blickfeld erstreckte. »Was ist denn das für eine Straße?«, fragte Wasilij verwundert. Das war ich ehrlich gesagt auch, denn ich konnte mich an keine feste Straße auf dem abhandengekommenen Wanderplan erinnern, die unsere Route querte. »Keine Ahnung«, meinte ich nur irritiert durch den ungewöhnlichen Umstand.
(?)
Es wurde noch geheimnisvoller, als wir den Damm hinaufgestiegen waren. Eine Betonplatte reihte sich an die andere in beide Richtungen. Man konnte die Straßenschneise kilometerweit einsehen, sie schien aus einem Nirgendwoher zu kommen und in einem Nirgendwohin zu verschwinden. Unbeirrbar führte der Betonplattenweg durch Felder und Wälder mit einer beängstigenden Geradlinigkeit und ließ sich von nichts aufhalten. »Ist das hier eine Landebahn für Außerirdische?«, erkundigte sich Lembit scherzhaft. Er bekam keine Antwort. Alle standen verblüfft auf den Platten und dachten über den Sinn und Zweck dieser Straße mitten in der menschenleeren Wildnis nach. »Lasst uns bloß abhauen«, brach Sergej endlich das Schweigen. »Es sieht sehr nach einem Armeegelände aus. Gleich taucht irgendeine Patrouille mit Maschinengewehren im Anschlag auf.« Er hätte recht haben können. Denn das würde die Tatsache erklären, dass die Straße nicht auf den Landkarten eingezeichnet war. Es widersprach ihm keiner, alle spürten irgendein tiefes Unbehagen beim Ansehen dieses drei Meter breiten Betonplattenweges, der gespenstisch in der Gegend lag und an seinem Ende etwas Ungutes vermuten ließ. Der Gedanke an einen Militärstützpunkt lag sehr nahe. Unser Nachtlager schlugen wir am Rande einer Waldung neben einem Feldweg auf, als die Sonne uns schon von der Seite anstrahlte und längere Schatten auf den Boden warf. Es war sechs Uhr. Noch etwa zwei Stunden waren verstrichen, ehe der Kochkessel über dem Lagerfeuer appetitliche Düfte in unserem Biwak verbreitete. Es gab Nudelsuppe mit Huhn aus der Tüte, aus drei Tüten, um genau zu sein, denn der Hunger war groß. Wir aßen alles bis zur letzten Nudel und saßen noch etwas am Feuer, während es zusehends dunkelte. Die Zungen lockerten sich nach zwei Schnäpschen und die Rückblicke auf den heutigen Tag wurden zum Gesprächsthema. Jeder schilderte seine Sicht der Dinge und ich musste ganz viel Kritik einstecken für mein unverantwortliches Handeln, das unsere ganze Expedition in Gefahr gebracht hatte. Am Ende ließ aber keiner seine eigene Version der Geschichte über den rätselhaften Betonplattenweg aus, sodass wir nach einer bestimmten Zeit nur darüber redeten. Wildeste Verschwörungstheorien kamen zur Sprache. Von der Invasion der Marsmenschen über einen geheimen Atombunker bis zu einer religiösen Kultstätte im Wald war alles dabei. Einig waren sich alle dagegen in einem Punkt: Der Weg wirkte unheimlich. So unheimlich, dass wir einstimmig beschlossen, zwei Wachen am Lagerfeuer über Nacht zu lassen. Jeweils zwei Leute sollten im Zweistundentakt das Feuer hüten und das Lager vor ungebetenen Besuchern schützen, während der Rest im Zelt schlafen durfte. Am nächsten Morgen tranken wir etwas Tee und aßen ein paar Zwieback, ehe wir unsere Wanderung fortsetzten. Es war ein feuchter, regnerischer Sommer und schon bald zog sich der Himmel zu und nahm uns die letzte Möglichkeit, relativ zuverlässig die Himmelsrichtungen zu bestimmen.
|
Diese Seite weiterempfehlen»Link an Freunde senden
KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
Zahlen & Daten zum Werk
![]() Ihre Spende ist willkommen!Wir stellen Ihnen gerne alle Inhalte unserer Webseite kostenlos zur Verfügung. Sie können die Werke auch in der E-Book-Version jederzeit herunterladen und auf Ihren Geräten speichern. Gefallen Ihnen die Beiträge? Sie können sie alle auch weiterhin ohne Einschränkungen lesen, aber wir hätten auch nicht das Geringste dagegen, wenn Sie sich bei den Autoren und Autorinnen mit einer kleinen Zuwendung bedanken möchten. Rufen Sie ein Werk des Autors auf, an den Sie die Zuwendung senden wollen, damit Ihre Großzügigkeit ihm zugutekommt.Tragen Sie einfach den gewünschten Betrag ein und drücken Sie auf "jetzt spenden". Sie werden anschließend auf die Seite von PayPal weitergeleitet, wo Sie das Geld an uns senden können. Vielen herzlichen Dank! Diese Seite weiterempfehlen»Link an Freunde senden |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||



