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OPEN DIGITAL LITERATURE PROJECT
Der Brockenwicht: Seite 33

»Gehen wir jetzt weiter?«, holte mich Geli mit ihrer Frage wieder in die Realität. Sie war fertig mit ihrem Video und stand marschbereit am Anfang des Trampelpfades, der zurück zur Chaussee führte.

»Ja, klar«, sagte ich noch etwas verträumt. Ich war noch nicht ganz präsent und schüttelte mit dem Kopf, um die Gedanken zurückzudrängen, als ich wieder jemanden bemerkte. »Wievielmal werden wir ihn heute noch treffen?« Zwischen den Tannen sah ich erneut den Mann im roten T-Shirt, dem wir heute schon zweimal begegnet waren. Er wanderte auf der Schotterstraße nach oben zum Brocken.

»Sei jetzt bloß still …«, hörte ich das Flüstern des Brockenwichts.

»Aber das …«

»Pst! Das ist kein Wanderer«, sagte er noch leiser als zuvor.

Ich wartete ab, bis die Gestalt hinter den Bäumen verschwunden war. »Was erzählst du da? Den Mann haben wir heute schon paarmal gesehen! Er hat uns schon bei den Ilsefä…«

»Es mag schon sein. Aber jetzt ist er kein Wanderer mehr. Er gehört zu den Bösen. Ich kann sie schon von Weitem riechen!«

»Wenn du meinst …«, gab ich mich geschlagen, glaubte dem Wicht aber immer noch nicht so richtig seine Geschichte.

Geli hatte den Mann auf dem Forstweg auch gesehen und ihr ist nichts aufgefallen, denn sie meinte zu mir: »Keine Ahnung, vielleicht noch einmal oben auf dem Gipfel.«

Allein die Tatsache, dass sie den einsamen Wanderer wahrnehmen konnte, während sie gegen die Erscheinungen der dritten Art immun war, warf die ganze Theorie des Brockenwichts über den Haufen, aber ich wollte mit ihm das Thema im Augenblick nicht ausdiskutieren.

Die Chaussee führte uns mit mäßigem Gefälle weiter bergauf, nachdem wir an der Hermannsklippe aufgebrochen waren, bis ich zehn Minuten später links abermals einen kleinen Rastplatz am Waldrand entdeckte. Eine Schutzhütte fehlte diesmal und ein Stempelkasten ebenfalls, aber neben der Infotafel, auf der allem Anschein nach weitere Zitate aus der Harzreise standen, erkannte ich schon von Weitem einen Picknicktisch, der für uns aktuell nicht von Bedeutung war, denn eine Rast hatten wir an dieser Stelle nicht vorgesehen. Meine Frau hatte sich bereits die Topposition erkämpft und wanderte vor mir mit einem Abstand von zwanzig Metern auf den Rastplatz zu, als ich wieder die Stimme des Brockenwichts vernahm.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes

Das Geheimnis des vernebelten Passes

Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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»So, guter Mann, das ist die Kreuzung mit dem Hirtenstieg. Lass mich jetzt runter, meine Reise ist hier zu Ende.«

Obgleich ich diesen Augenblick schon die ganze Zeit hatte kommen sehen, ereilte ein Gefühl tiefer Betrübnis meine Sinne. Es war ein Abschied für immer, ich wusste es. Ich spürte es. Mich überkam es jedes Mal seltsam, wenn ich mich von jemandem, der zu einem Teil meines Lebens geworden war, verabschiedete und unbewusst eine verschlüsselte Botschaft in seinen Augen lesen konnte: Wir sahen uns zum letzten Mal. Dieses Gefühl machte sich jetzt in meinem aufgewühlten Inneren breit.

Ich nahm den Kleinen behutsam in die Hand und hockte mich nieder. »Sehen wir uns noch irgendwann?«, fragte ich, als der Wicht von der Handfläche auf einen Stein am Straßenrand hinuntergesprungen war. Meine Augen wurden feucht, ich blinzelte ein paarmal.

»Jetzt krieg dich wieder ein, guter Mann! Bestimmt. Seinen Brockenwicht wird keiner so einfach los! Übrigens: Danke fürs Mitnehmen!«

»Ich habe zu danken! Viel Erfolg. Mach es gut.« Meine Stimme zitterte etwas.

»Danke, ebenso. Denk daran: Nichts ist so, wie es zu sein scheint.«

»Ja … ja, natürlich«, stotterte ich bedrückt, während er seine Lippen zu einem breiten Lächeln formte.

»Hihihi«, beglückte er mich noch zum letzten Mal mit seinem schelmischen Lachen und verschwand im Gebüsch neben der Straße.

Das war aber auch ein Ding mit diesem Wicht, Brockenwicht, natürlich, – er hätte diesen Namen hören wollen. Ich hatte den Eindruck, dass ich gerade etwas Unersetzbares verloren hatte. Ich kannte ihn erst seit zwei Stunden, aber der kleine Schalk war mir dermaßen ans Herz gewachsen, dass nichts in der Welt meinem Leben noch einen Sinn zu geben imstande zu sein schien, solange meine seelischen Wunden nicht geheilt waren. Ich vermisste seine lieben Frechheiten neben meinem Ohr, sein drolliges Grinsen und seine belehrende Art. Eigentlich war er nur ein … Eigentlich wusste ich gar nicht, wer oder was er war, wenn ich mir es recht überlegte! War er wie Heine nur durch meine Vorstellungskraft entstanden? Es wäre denkbar gewesen. Aber andererseits gab es mein abgeschürftes Knie, das sich regelmäßig meldete, wenn die Kratzer mit der Hose in Berührung kamen, und ich hatte nicht vergessen, wie ich hilflos auf dem Boden lag. Die Bilder der sich aufbäumenden Wurzeln auf dem Pfad standen noch vor meinen Augen, genauso gut konnte ich mich daran erinnern, dass sie sich in seiner Gegenwart wie zahme Kätzchen gefügig an den Fels geschmiegt hatten. So viele Einzelheiten hätte ich mir nicht ausdenken können. Wie auch immer, nun war er weg und wir mussten irgendwie allein weiter, zum Brocken, egal wie viele Zerbolte uns im Wege standen – vorausgesetzt, dass es diese Kreaturen gab und ich sie mir nicht wieder ausgedacht hatte. Das Geheimnis würde sich gleich von selbst lüften, beschloss ich.

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.825
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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