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OPEN DIGITAL LITERATURE PROJECT
Der Brockenwicht: Seite 32

»Jetzt mach mir aber keine Angst!« Ich versuchte den Ernst seiner Worte herunterzuspielen, was mir sichtlich schlecht gelang.

Unterdessen hatten wir die Kreuzung erreicht, wo meine Frau stand und nicht weiterwusste. Ich war erschöpft und brauchte eine kurze Pause. Der letzte Abschnitt war ziemlich steil gewesen, sodass ich mit Erleichterung aufatmete, als ich feststellte, dass die Chaussee, die hier knickartig nach links abdrehte, nur ein geringes Gefälle aufwies.

»Wir müssen nach links«, verkündete ich die neue Wanderrichtung, nachdem ich mir die Route noch einmal auf der Karte angesehen hatte. »Hier muss irgendwo diese Hermannsklippe sein.«

Eine unvergessliche Aussicht öffnete sich unseren Blicken, nachdem Geli einige Minuten später den Durchgang zu den riesigen Granitblöcken gefunden hatte, die einen Vorsprung aus nacktem Fels an der Nordflanke des großen Berges bildeten. An der fast zugewachsenen Bresche zwischen den Tannen waren wir beinahe vorbeigelaufen und wenn nicht der Entdeckergeist meiner Frau ihr etwas zugeraunt hätte, wäre die Klippe, die im Großen und Ganzen nur einige Meter von der Straße entfernt hinter den Bäumen versteckt war, für immer ein Geheimnis geblieben. Von hier konnte man schon den nördlichen Rand des Harzgebirges sehen, hinter dem sich die norddeutsche Tiefebene so weit das Auge reichte erstreckte. Die Sicht war gut trotz der bleiernen Wolkenschwaden und man konnte die Gegend klar und deutlich bis zum Horizont überblicken, wo noch ein schmaler blauer Streifen am Himmel an den wunderschönen sonnigen Morgen vor einigen Stunden erinnerte. Von hier aus konnte man auch das ganze Ausmaß der Waldzerstörung durch die Käferplage beurteilen. Nur hier und da ragte ein kleines grünes Inselchen aus dem über die umliegenden Hügel wogenden Meer von trockenen, toten Bäumen, die der Gegend ihren deprimierenden graubraunen Farbton verliehen. Die Erkenntnis, dass die Natur nach ein paar Jahrzehnten das Gebirge wieder grün anmalen würde, spendete wenig Trost. Es würde höchstwahrscheinlich nicht mehr zu meinen Lebzeiten der Fall sein. Dessen ungeachtet freuten wir uns wie kleine Kinder über das überwältigende Panorama, das sich unseren Augen bot, sprangen fröhlich von einem Granitblock auf den anderen, um eine bessere Perspektive für ein Foto zu bekommen, und riskierten dabei Kopf und Kragen – ein Ausrutscher hätte gleich tödlich enden können.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes

Das Geheimnis des vernebelten Passes

Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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»Mach doch mal ein Video«, schlug ich Angelina vor. »Diesmal aber mit deinem Telefon!«

Sie sah mich finster an, schaltete aber den Kameramodus in ihrem Smartphone um und richtete das Objektiv auf die atemberaubende Gegend, während ich auf einem Stein saß, mir die Umgebung ansah und mich bald nach hinten umdrehte, weil ich ein Geräusch gehört hatte. Hinter uns stand Heine. Er sah verträumt in die weite Ferne, ein leichter Luftzug spielte mit seinem Haar.

»Wo warst du, Harry? Ich habe dich vermisst!«, sprach ich ihn gedanklich an und stand auf.

Der Brockenwicht reagierte prompt: »Wohin willst du?«

»Ich … ich … wollte nur …«, stammelte ich zur Antwort.

»Hast du jemanden gesehen?«, flüsterte er mir ins Ohr.

»Ähm«, begann ich den nächsten Satz und verstummte verwundert über die rätselhafte Fähigkeit des Wichts. Wie konnte er es ahnen, dass ich jemanden gesehen hatte? Heine war eine Art Hologramm, das meiner Fantasie entsprungen war, ein Trugbild, wie vermutlich auch der Brockenwicht, denn etwas Gegenteiliges hätte ich keinem glaubhaft darlegen können. Dies erklärte aber nicht, warum ein Hirngespinst die Gegenwart des anderen auf eine mysteriöse Weise spüren konnte!

»Wir sind hier schon viel näher an der Grenze zum Bösen, als es mir lieb ist«, fuhr er fort. »Zerbolte können auch Menschengestalt annehmen. Denk daran, was ich dir gesagt habe: Keiner ist derjenige, den du zu sehen glaubst.«

»Danke, der Hinweis ist mir beim ersten Mal entgangen«, wollte ich fast schon ganz tief in meine Sarkasmuskiste greifen, denn ich wusste auch ohne den Brockenwicht, dass derjenige, den ich gesehen hatte, definitiv nicht Heine war, aber mit Sicherheit auch kein geheimnisvoller Zerbolt. So verrückt war ich noch nicht. Obwohl … Ich hatte schon meinen persönlichen Brockenwicht, mit dem ich Gespräche führte. Ich schwieg mich aus zu den Einzelheiten. Er musste sie nicht zwingend erfahren.

Indessen hatte sich Harry wieder wie in Luft aufgelöst. Das war ärgerlich. Ich hätte ihn noch gerne gefragt, wie er mit seinen Augen das Harzpanorama sah – ob die Tannen grün waren, ob die Sonne vom Himmel schien, letztendlich ob er auch seltsamen Wesen begegnet war, die er in der Harzreise verschwiegen hatte. Es war Schicksal.

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.824
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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