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Der Brockenwicht: Seite 19
Der »letzte deutsche Romantiker« machte Anstalten zum Aufbruch. Ich beeilte mich mit dem Einpacken der Jacke, denn ich wollte unbedingt noch ein Stück mit ihm gemeinsam auf dem Pfad laufen, so eine Gelegenheit wie heute bot sich nicht alle Tage. »Ich gehe dann mal vor!«, konnte ich noch Geli sagen, ehe ich schon im nächsten Augenblick mit großer Anstrengung Harry auf dem felsigen Weg hinterherlief. Die Stelle, an der wir ihn eingeholt hatten, war nicht besonders gut geeignet für einen kleinen Plausch. Der Pfad war eng, sodass man nebeneinander gar nicht hätte wandern können, und er war noch steiler geworden als zuvor. Ich kam schon nach einigen Minuten außer Atem und kämpfte aus letzter Kraft mit dem Berg, um den Abstand zu Heine zu verringern. Ich hatte keine Chance, ich kam ihm keinen Zentimeter näher, im Gegenteil, die Entfernung wurde immer größer und schon bald verlor ich ihn aus den Augen. Das war bitter, wirklich! »Wieso bist du einfach gegangen, ohne ein Wort zu sagen?«, fragte Angelina unzufrieden von hinten, als sie mich eingeholt hatte. »Ich«, keuchte ich sie an, »ich habe ge… gesagt, dass ich gehe.« »Glaubst du, man kann an dem Wasserfall etwas hören?« »Keine Ahnung.« Ich machte Platz auf dem Weg und ließ sie durch. »Geh schon, ich muss mich ausruhen.« Das Wettlaufen mit dem Dichter hatte mich die letzten Kraftreserven gekostet. Ich hielt an und stützte mich mit den Unterarmen auf die Wanderstöcke ab. Eigentlich hätte ich es wissen müssen, dass es nichts bringen würde, er war viel jünger und frischer. Ich hätte es lieber erst gar nicht versucht. Doch was passiert war, das war vorbei und man konnte es nicht mehr ungeschehen machen. Ich brauchte vielleicht fünf Minuten, um meinen Atem zu beruhigen, glaubte ich. Das ließ sich einrichten. Um Geli machte ich mir keine Sorgen, sie würde schon irgendwo auf mich warten. Zu meinem Erstaunen verhielt sie sich heute äußerst vernünftig, sie lief nicht kilometerweit weg, wenn ich einen Anstieg zu bewältigen hatte, und blieb immer in der Nähe, wenn nicht gar in meinem Blickfeld. Ob es daran lag, dass sie noch von den vielen Wanderausflügen der letzten Tage angeschlagen war, oder weil sie auch etwas Unheimliches spürte und sich unbewusst davor fürchtete, in diesem feuchten verwunschenen Tal allein zu bleiben? Dafür hätte sie auch genug Gründe gehabt, die sie allerdings weder sehen noch hören konnte, und ich wollte sie auch nicht aufklären.
(?)
Mir fiel auf, dass die Felsen zu beiden Seiten der Schlucht nicht mehr so hoch über meinem Kopf in den Himmel ragten als noch an den unteren Ilsefällen. Nachdem ich meine Kräfte wiedererlangt hatte, bewegte ich mich zwar immer noch inmitten einer dichten Vegetation am Hang, aber im Tal war es deutlich heller geworden. Die großen Buchen, die die Ilse von beiden Seiten gesäumt hatten, waren verschwunden und hatten Platz für halbhohes Jungholz gemacht. Die Sonne hatte ein leichtes Spiel und schien ungehindert bis in die tiefsten Ecken der Schlucht. Oben auf der anderen Seite des Tals sah ich durch die lichten Bäume schon deutlich die Kuppe des Hügels, der das Tal eingrenzte. Alles deutete darauf hin, dass ich mich der Stelle näherte, an der die Ilsefälle ihren Anfang nahmen, wo sich die Klamm weit öffnete, um die kleine Prinzessin in ihre Arme zu empfangen. Doch der Pfad kletterte unbeirrt immer weiter nach oben und zwang mich alle zehn Minuten zu einer kurzen Rast. Dennoch war ich bereit, die Strapazen geduldig zu ertragen, solange mich keine seltsamen Geschöpfe des Waldes behelligten. Sie konnten doch nicht real sein, oder? Sie waren doch alle nur Figuren aus den Harzgeschichten, alles abergläubischer Schwachsinn! Hatte nur ich diese Erscheinungen? Offenbar nicht, wenn ich mir es recht überlegte, denn ich kannte jemanden, der zufällig gerade hier in der Gegend war, er hatte auch etwas vom Pferdefuß geschrieben, der neben ihm hinaufkletterte, wie es ihm vorkam. Und wenn ich an einen gewissen Herrn von Goethe dachte und den unseligen Doktor Faust … Oh, nein! Den Gedanken wollte ich nicht zu Ende denken. Ich wäre vielleicht zum Schluss gekommen, dass die Wichte erst der Anfang waren und … Zum Teufel damit! »Hallo!«, erklang hinter mir eine Männerstimme und ließ mich zusammenzucken. Wenn man vom Teufel sprach … Ich drehte mich um in Erwartung der grauenvollen Gestalt von Mephisto mit seinen listigen, schelmischen Augen, aber es war nur ein Wanderer, der mich überholen wollte. »Morgen«, grüßte ich zurück und machte Platz auf dem Weg.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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