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Der Brockenwicht: Seite 18
Zu Hause holte ich die Bücher aus dem Aktenkoffer und sagte stolz: »Guck, habe ich zum Sonderpreis bekommen!« Noch bevor ich den Satz beendete, sah ich einen Hauch der Enttäuschung über ihr Gesicht eilen. »Und wie hoch«, fragte sie vorwurfsvoll, »war dieser Sonderpreis?« Die Situation entwickelte sich nach dem schlechtesten Szenario, das ich mir vorstellen konnte. »Und was sollen wir nächste Woche essen?«, stellte sie die entscheidende Frage, nachdem ich ein paar verschleiernde Angaben zur Anzahl der ausgegebenen Scheine gemacht hatte. Ich stammelte noch etwas über die Flut, die immer nach der Ebbe kam, und dann etwas darüber, dass wir schon schlechtere Zeiten gehabt hatten, aber sie hörte mir nicht mehr zu. Einige Tage lang schmollte sie in der Ecke. Erst als sich die Aufregung nach einer Woche gelegt, die Werke inzwischen ihren Stammplatz im Regal gefunden und ich schon das eine oder andere »Caput« gelesen hatte, wurde sie wieder ansprechbar. Ich nahm an, dass ich den Ärger nunmehr überstanden hatte, und vermutete keine Tücken, als ich zehn Tage später von den Vorlesungen abends nach Hause kam und Geli sagen hörte: »Dein Essen steht auf dem Küchentisch.« In der Küche bot sich meinem Blick ein äußerst verstörendes Bild. Auf dem leeren Tisch stand ein Teller, links davon lag eine Gabel und rechts ein Messer, und auf dem Teller präsentierte sich der zweite Band der Heinewerke. »Das ist dein Essen!«, vernahm ich von hinten. »Ich kann dir nichts mehr anbieten, wir haben sonst nichts außer deinen Büchern.« Jetzt ärgerte ich mich über die Uneinsichtigkeit meiner Frau. »Was soll das eigentlich?«, wurde ich laut. »Du kannst doch nicht einfach ein neues Buch auf einen fettigen Teller legen. Bestimmt hast du jetzt den ganzen Umschlag verschmutzt!« Ich nahm das Buch und untersuchte es von allen Seiten. »Wieso nicht?«, fragte sie trocken. »Du kannst es ja auch: Das Geld, das für Lebensmittel bestimmt ist, aus dem Fenster werfen – für Bücher!« Ich rollte mit den Augen. »Pass auf«, sagte ich erregt und zeigte auf das Buch, »die Zeiten der Not vergehen, aber das hier, das überdauert die Ewigkeit!«
Ich musste feststellen, dass sich meine Prophezeiung im Laufe der Jahre zumindest zum Teil bewahrheitet hatte. Die fünf blau bezogene Bände hätten es vielleicht nicht mit der Ewigkeit aufnehmen können, aber sie hatten alle Umzüge, Umsiedlungen und Auswanderungen heil überstanden und dienten mir noch heute treu und ergeben. Auch Angelinas Beziehung zu Druckwerken hatte sich geändert, sie war zu einer leidenschaftlichen Leserin von historischen Romanen geworden. Ich hatte es mir bis heute verkniffen, ihr einen ihrer dicken Wälzer als Abendessen zu servieren, obwohl der Wert ihrer Bibliothek mindestens um ein Tausendfaches den Preis der fünf harmlosen Bände von Heine überstieg, aber sie wegen der Geschichte aufzuziehen, ließ ich mir kein einziges Mal entgehen.
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»Was habe ich denn deiner Meinung nach noch machen sollen?«, meldete sich Geli wieder zu Wort. »So hast du ja vielleicht verstanden, was es ist, Kinder ohne Geld großzuziehen! Du warst ja nie da! Entweder auf der Arbeit oder bei den Vorlesungen. Ich musste mich immer allein durchschlagen und jeden Tag überlegen, was die Kinder zu essen kriegen! Du hast das bekommen, was du gekauft hast: Bücher!« »Und hätte ich sie nicht gekauft, wärst du jetzt nicht hier bei dieser Wanderung«, brachte ich meine Sicht der Dinge zum Ausdruck. »Du wüsstest nicht einmal von der Existenz dieses Tals, wenn ich es dir nicht gesagt hätte, und ich weiß es aus den Büchern, die du in der Pfanne braten wolltest.« »Ich wollte sie nicht …!« »Keine Ahnung, was du wolltest. Wir kommen jetzt nicht weiter, es ist ein Gespräch, das wir schon tausendmal geführt haben. Lass es sein.« »Braten …«, gab Geli noch zum Schluss unzufrieden von sich und verstummte. Ich erinnerte mich wieder daran, weswegen wir hier überhaupt angehalten hatten. Ich musste endlich das Poloshirt ablegen und im Rucksack verstauen. Mein Hemd darunter war inzwischen ganz und gar durchnässt. Meine Frau ging zum Rand des Felsvorsprungs, während ich mich mit dem Oberteil beschäftigte, und drehte ein Video von der Flussschnelle, die unten das Wasser der Ilse in Gischt aufgehen ließ. Die feinen Tröpfchen schwebten in der Luft und einige erreichten auch den Vorsprung, während sich das Sonnenlicht in ihnen zauberhaft brach und sie in allen Regenbogenfarben glänzen ließ. Ich verfolgte Geli mit meinem Blick, als ich überrascht feststellte, dass wir nicht allein auf dem Platz waren. Hinter dem vermoosten Felsen mit der Gusstafel stand Heine und bewunderte ebenfalls das Naturschauspiel! Seine Lippen bewegten sich, er murmelte nach wie vor etwas vor sich hin. Allem Anschein nach hatte er schon die ganze Zeit dort gestanden, nur ich hatte ihn nicht bemerkt. Das war eindeutig er! Wer hätte es sonst noch sein können, mit dem merkwürdigen Hut, unter dem sein ziemlich langes, etwas struppiges Haar hervorschaute, und einer altmodischen abgetragenen Joppe, die ihn eindeutig als einen Zeitreisenden identifizierte? Seine Lederstiefel waren auf den ersten Blick auch denkbar wenig geeignet für so eine Art Wanderung. Aber was wusste ich schon von den Wandergewohnheiten der Leute im Jahre achtzehnhundertvierundzwanzig?
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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