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Der Brockenwicht: Seite 115
»Gut, dann sehen wir mal nach«, sagte meine Frau und fing an, den Verband zu entfernen, indem sie die stellenweise mit Blut verschmutzte Binde Schicht nach Schicht abwickelte und im gleichen Schritt in der Hand zusammenrollte für den Fall, dass sie gleich noch einmal angelegt werden musste. »Hä?«, gab Leonie verwundert von sich, als Geli auch das Heftpflaster von der Wunde abgezogen hatte. »Hat schon jemand so was erlebt?«, fragte meine Frau und starrte auf das Bein, während sie noch immer wie gelähmt vor dem Mädchen in der Hocke saß. Nein. So was hatte noch keiner von uns gesehen. Zumindest war Dominik und mir noch nie etwas Ähnliches unter die Augen gekommen, denn wir waren beide sprachlos vor Staunen. Die tiefe blutende Bisswunde, die noch vor weniger als einer Stunde im Oberschenkel des Fräuleins geklafft hatte, war nicht mehr vorhanden. Man konnte zwar nicht behaupten, dass sie spurlos verschwunden war – schon beim flüchtigen Hinsehen war die entsprechende Stelle auf der Haut erkennbar –, aber der tiefe Riss im Gewebe war weitgehen geheilt. Die Wunde hatte sich zugezogen und darüber hatte sich derweil eine Art dünnes rosafarbenes Narbengewebe gebildet, das noch sehr fragil zu sein schien, dennoch vollkommen ausreichend dafür gewesen war, dass Leonie den letzten Abschnitt des Weges beinahe im Alleingang geschafft hatte. Nur das alte vertrocknete Blut rund um die Narbe erinnerte noch an die schockierenden Bilder von vorhin. Aber etwas stimmte nicht mit dieser neuen Haut, sie war anders als das Gewebe, das sich normalerweise über eine heilende Wunde legte. Ich hatte den Eindruck, dass sie irgendwie halbdurchsichtig war und ich jedes einzelne Äderchen darunter sehen konnte, bis hin zum Oberschenkelknochen. Doch war ich in keiner Weise mit medizinischen Aspekten einer Wundheilung vertraut und hielt mich mit der Bekanntgabe meiner Befunde und Behandlungsratschläge zurück, um mir nicht einen Namen als Scharlatan zu machen. »Ich könnte jetzt doch wieder ganz normal laufen!«, freute sich Leonie. »Oder was denkt ihr?« »Ich denke schon, aber …«, erwiderte Dominik noch etwas unsicher. »Nichts aber!«, trotzte das Mädchen. »Wo ist meine Hose?« Schnell zog sie sich die fehlenden Kleidungsstücke an und lief zur Probe einige Schritte hin und zurück auf der Brücke.
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»Es funktioniert!«, teilte sie uns voller Freude mit. »Ich brauche keinen Stock mehr! Du kannst ihn wegschmeißen.« »Warum wegschmeißen?«, fragte der Junge philosophisch. »Er könnte ja noch einen anderen Zweck erfüllen.« Leonie war marschbereit und lief aufgeregt und ungeduldig von einem Geländer zum anderen kreuz und quer über die Rote Brücke und sah sich die Gegend an, während sich der Rest mit dem Schnüren der Rucksäcke beschäftigte. Ich lobte Dominik für seinen Einfallsreichtum, als er seinen Rucksack mit den Stricken an der ausgedienten Schiene wie an einer Angelrute befestigte und sich den Stock in seiner neuen Eigenschaft über die Schulter legte. »So kann man ihn nachhaltig nutzen! Warum gleich wegschmeißen? Das ist mir eine Wegwerfgesellschaft!«, übte er spöttisch Kritik an der modernen Verschwendungsphilosophie des menschlichen Geschlechts. Leonie hielt plötzlich inne und sagte: »Da kommen drei Jungen! Vielleicht haben sie Empfang auf ihren Handys?« Ich wurde hellhörig, richtete mich auf und folgte mit den Augen ihrem Blick. Zunächst konnte ich nichts Außergewöhnliches ausmachen, ich sah auch keine Jungs, die angeblich auf dem Forstweg wanderten. Doch dann gefror mir das Blut in den Adern. Plötzlich erblickte ich drei Gespenster, die den Forstweg in der Höhe der Schutzhütte querten mit der Absicht, den Trampelpfad zu beschreiten, auf dem wir mit Geli heute nach oben gewandert waren. Obwohl, Gespenster, das war wahrscheinlich nicht die korrekte Beschreibung dessen, was ich sah. Es waren drei halbdurchsichtige Gestalten, bei denen sich ohne Zweifel Merkmale von jungen Leuten männlichen Geschlechts feststellen ließen. Die Rucksäcke, die Kleidung und die weichen Teile ihres Körpers ließen sich nur als hellgraue Umrisse erahnen, die ihr wandelndes Gerippe umgaben. Es war viel dunkler und hob sich deutlich von der Umgebung ab. Alles in allem: Ich sah ein Röntgenbild von drei Menschen in voller Größe, die den Pfad entlangwanderten, als wäre es eine ganz normale Sache gewesen. »Welche Jungen?«, fragte Dominik laut. Er hielt ebenfalls Ausschau nach dem angekündigten Besuch, konnte aber offenbar weder Menschen noch wandernde Skelette sehen.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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