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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 98

Den Pass erreichten wir nach einer halben Stunde, nachdem wir aus der Schlucht auf den Kamm hinaufgeklettert waren und der Pfad uns wieder auf die Südseite geführt hatte. Während wir den Berggrat hinunter zum Pass liefen, versuchte ich mich ein bisschen zu orientieren – die Wolken waren in der Schlucht hängen geblieben, auf der Curralseite schien die Sonne. Pico Grande lag zum Anfassen nahe zu unserer Linken. Sein Aussehen hatte sich durch geringere Entfernung und einen anderen Betrachtungswinkel verändert. Der Sattel links davon, wo wir uns von Jean-Luke verabschiedet hatten, war durch den Berg verdeckt, aber der Sattel rechts, den ich Geli schon von der Flanke des Pico Ruivo gezeigt hatte, lag unmittelbar vor uns. Er sah jetzt durch die vorgelagerten Gipfel und Hügel nicht ganz wie ein Sattel aus, aber man konnte ihn noch erkennen. Etwas sagte mir, wir sollten heute noch etwas damit zu tun bekommen. Wir befanden uns an der nordwestlichen Ecke des Nonnentals, der Sattel war die Grenze und dahinter hätte sich schon die Sicht auf den Kessel von Ribeira Brava öffnen müssen, denn der Gebirgszug der Hochebene Paul da Serra ragte darüber hinaus in der Ferne. Sogar die Windräder hätte man bei klarem Wetter vielleicht schon ausmachen können, wenn man genau hingesehen hätte.

Der Weg lief auf eine Kreuzung von zwei Wanderrouten hinaus. Das war der Pass! Es verrieten zahlreiche Wegweiser. Links ging es hinunter in den Curral, rechts zweigte sich ein Pfad ab, der nach Lombo do Urzal führte, wo auch immer es lag, und geradeaus führte ein steiler Treppenweg in eine Lücke zwischen zwei abgebröckelten Felsspitzen oberhalb des Passes. Dort stand der Wegweiser mit der Aufschrift Encumeada, er vermeldete, dass bis dahin noch eine Strecke von sieben Kilometern zurückzulegen war. Wir rasteten am Fuße der Treppe. Es war angesagt und wurde auch unmissverständlich im Wanderführer empfohlen, um Kräfte vor dem Aufstieg zu sammeln.

Wir ließen uns neben dem Pfad auf zwei größeren Steinen nieder, andere Sitzgelegenheiten gab es nicht. Während meine Frau die übrig gebliebenen Butterbrote, Eier und Gurken mit Tomaten aus dem Rucksack holte, schlug ich im Wanderführer nach, was dort über diese Gegend drinstand. Dieser Pass hieß Boca das Torrinhas und der Stufenweg sollte uns, hoffentlich bald, unter den Gipfel des Pico do Jorge bringen. Der Herausgeber des Wanderbuchs versprach eine feine Aussicht auf die höchsten Inselberge von seiner Flanke. Es war vermutlich wieder derselbe Georg, der mir mit seinem mysteriösen Bogen schon an der Küste Rätsel aufgegeben hatte. Hier trug ein ganzer Berg seinen Namen.

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Am Pass Boca das Torrinhas
Am Pass Boca das Torrinhas

Seit dem Mittagessen waren schon etliche Stunden vergangen, sodass diese Stärkung sehr gelegen kam. Wir aßen die Reste unserer Vorräte mit großem Appetit und waren gerade beim Dessert – an Schokolade hatte ich diesmal auch gedacht –, als wir plötzlich das Klappern von Wanderstöcken vernahmen und ein sportlich aussehender junger Mann in einer eng anliegenden kurzen Hose den Pfad, der nach Lombo do Urzal führte, heruntergelaufen kam. Er wanderte nicht, er rannte mit den Wanderstöcken unter seinem Arm den Hang abwärts. Als er an der Kreuzung angekommen war, zögerte er etwas vor den Wegweisern, sagte kurz: »Bonjour«, nachdem er uns bemerkt hatte, und verschwand genauso schnell, wie er aufgetaucht war. Auf dem Pfad nach Curral das Freiras verriet nur eine aufgewirbelte Staubwolke, dass er keine Vision gewesen war.

»Hä?« Geli sah verwundert auf die Stelle neben den Wegweisern, wo der Läufer noch eben gestanden hatte.

»Keine Ahnung, Franzosen gehen manchmal seltsame Wege«, bemerkte ich und stand auf, um mir die Beine zu vertreten, die in der unbequemen Sitzposition ein wenig eingeschlafen waren.

Wir standen noch eine Weile an einer offenen Stelle auf dem Berggrat und sahen auf die nördliche Seite in eine tiefe Schlucht hinein, die hier ihren Anfang nahm und zur Küste hinunterlief. Ob sie auch die Küste erreichte, konnte man nicht erkennen, Nebelschwaden verhinderten die Sicht. Hinter unserem Rücken erstreckte sich unten das Nonnental.

»Was war das?«, fragte Geli auf einmal erschrocken.

»Was denn?« Ich verstand die Frage nicht.

»An mir ist gerade etwas Großes vorbeigeflogen!«, antwortete sie.

Ich schaute aufmerksam in die Luft und sagte: »Ach, mein Freund ist wieder da.« Über der Schlucht flog gerade der aggressive Vogel eine Kurve, um zurück auf die Südseite zu kommen. »Davon habe ich heute schon ein paar erlebt! Dumme Vögel!«

Mein Blick folgte der streitsüchtigen Amsel. Sie flog auf die Südseite, wendete abermals und setzte zu einem neuen Angriff an. Diesmal war ich das Ziel. Sie sauste wenige Zentimeter entfernt von meinem Kopf vorbei, sodass ich sogar einen kräftigen Luftzug verspürte.

»Der Vogel ist verrückt!«, sagte ich und entfernte mich von der offenen Stelle, um mir noch die Infotafel an der Kreuzung anzuschauen.

Welche Rolle ihr zugedacht war, erschloss sich mir nicht, darauf gab es weder Bekanntmachungen noch sonstige nennenswerte Informationen, nur vergilbte Reste alter zerfledderter Plakate hingen traurig herunter. Ich drehte mich wieder um.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 12.012
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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