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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 97
»Ich habe keine Ahnung! Vielleicht. Aber den letzten Briefkasten habe ich vor fünf Stunden gesehen. Hält er Kurs auf Santana? Oder will er ein Paket in der Wirtschaft unter dem Pico Ruivo zustellen?«, fragte ich ironisch. Der »Postbote« grüßte freundlich, ging an uns vorbei, nachdem wir uns gegenseitig etwas Platzt auf dem schmalen Weg gemacht hatten, und wanderte weiter mit großen, schnellen Schritten, als wäre er in Eile gewesen. Ich merkte, dass sein Hemd unter dem Sakko sehr verschwitzt und seine Haare an den Schläfen klitschenass waren vor Schweiß. Schon bald vergaß ich diese Begegnung. Wir mussten einen lang gezogenen Aufstieg zu einem flachen Hügel bewältigen, um erneut auf den Kamm der Bergkette hinauszukommen, auf dem sich abermals dichte Schwaden festgesetzt hatten, als ich mich keine zwanzig Minuten später umdrehte und wie versteinert stehen blieb. »Gelka, ich glaube, wir kriegen wieder Besuch!«, sagte ich, als ich sah, dass uns sich wieder jemand näherte, diesmal aus der anderen Richtung. Sie sah aufmerksam hin und mutmaßte: »Er kommt zurück. Das ist der Briefträger!« »Menschenskind … Wer ist das? Und was mach er hier überhaupt?« Ich erkannte auch die große Tasche an seiner Seite, als die Entfernung kleiner geworden war. Er stampfte vorüber und war bald außer Sichtweite. Wir sahen uns mit Geli verdutzt an, ehe wir unsere Wanderung fortsetzten. Wo kam der Mann her und wo ging er hin? Ich fragte mich, ob es hier in der Gegend eine geheimnisvolle Höhle gab, in der asketische Mönche hausten, zurückgezogen und einsam, die täglich eine ermutigende Schrift persönlich vom Papst per Post erhielten. Oder abonnierten die hiesigen Fuchs und Hase eine Tageszeitung, die auch bei Wind und Wetter zugestellt werden musste? Außerdem entstand bei mir ein leiser Verdacht, dass mir seine Figur in diesem dunklen Anzug und mit der Tasche über die Schulter auf eine merkwürdige Weise bekannt vorkam. Ich glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Ich erinnerte mich an die mysteriöse Gestalt, die ich in meiner Vision auf dem Königspfad gesehen hatte. »Nein, bitte, nicht schon wieder«, sagte ich zu mir und versuchte, das Ganze so schnell wie möglich zu vergessen. Die Wolken hatten den Gebirgsrücken fest im Griff, als wir wieder auf die Nordseite wechselten. Es gab nicht viel zu sehen. Man konnte vielleicht noch zwanzig Meter weit den Verlauf des Weges erkennen, bevor er auf eine dichte Nebelwand traf. Ich hatte das Gefühl, dass der Pfad immer weiter nach unten führte – das Wandern war während der letzten Viertelstunde ein reines Vergnügen gewesen. Man musste sich nicht anstrengen, die Beine bewegten sich von alleine. War es das erste Anzeichen für den bevorstehenden kräftigen Anstieg aus dem Wanderführer? Ich wusste, nach der Ebbe kam immer die Flut, nach dem Abstieg kam immer … Was sollte es? Den Anstieg hätten wir auch noch überwunden.
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![]() Tiefe Schlucht kreuzt den Weg Die Schwaden lichteten sich umso mehr, je tiefer wir auf dem Pfad abstiegen, der uns bald an den Rand einer tiefen Schlucht brachte. An den steilen Wänden des Abgrunds hefteten sich Nebelfetzen, sodass man nicht erkennen konnte, wie tief es nach unten ging. Es musste aber sehr tief sein, denn bald standen wir an einem Stufenweg, der in schwindelerregendem Winkel steil nach unten führte, das Ende der Treppe konnte man nicht erkennen. Der Abstieg hätte ohne Zweifel jeden Augenblick zu einer tödlichen Rutschpartie in den Abgrund werden können, wenn die feuchten, glitschigen Stufen nicht mit einem Drahtseil gesichert gewesen wären. »Halte dich bloß fest!«, wies ich Angelina an, als ich schon auf der zweiten Stufe ausrutschte, nur das Seil, an dem ich mich festhielt, bewahrte mich vor einem Sturz auf den Rücken. »Jaja!«, hörte ich nur ihre Stimme hinter mir. Es war besser, wenn man den Kopf nicht in alle Himmelsrichtungen hin- und herdrehte, sondern sich nur auf die Treppe konzentrierte, um schwindelfrei zu bleiben. Die Stufen hörten auf und der Weg verengte sich zu einem zugewachsenen felsigen Steig, er machte das Vorankommen nicht einfacher, obwohl das Gefälle merklich abnahm. Man musste nur aufpassen, dass man nicht rechts daneben trat, denn dort war nichts außer Luft und der Boden der Schlucht war immer noch nicht in Sicht. Ich wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis wir endlich unten angekommen waren, ich hatte aber das Gefühl, dass wir schon stundenlang versuchten, die Schlucht zu überqueren. Geli hatte Wadenkrämpfe bekommen und musste sich während der Pause, die wir nach dem Abstieg einlegten, die Beine massieren, denn auf der anderen Seite wartete schon ungeduldig ein ähnlich steiler Aufstieg auf uns. »Nach einem kräftigen Gegenanstieg …«, zitierte sie die Stelle aus dem Wanderführer, an die ich mich auch permanent erinnerte, während sie auf einem Stein saß, aus der Flasche trank und sich den Weg auf der anderen Seite der Schlucht ansah. »Es ist aber noch nicht der richtige Gegenanstieg«, korrigierte ich meine Frau in Bezug auf unsere aktuelle Position auf dem Wanderplan. »Zuerst muss noch irgendein Pass kommen, nach dem der kräftige Anstieg anfängt. Wir sind aber noch nicht dort. Das hier ist eine Schlucht, kein Pass!«
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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