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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 95
Als ich noch zu meinen Lehrerzeiten einen Schülerwanderverein leitete, verschlug uns einmal das Schicksal in eine bewaldete Gegend, die ich noch aus meiner Jugend kannte und die meinen Schutzbefohlenen das Gefühl einer Übernachtung in der Wildnis vermitteln sollte. Nebenbei wurde auch Orientieren mit dem Kompass in offenem Gelände geübt und sonstige Aktivitäten erlernt, die dazu gehörten, wie Zelt aufbauen und Feuerstelle sicher einrichten. Ich überlegte, auf welche Weise man die Zeit zwischen dem Abendessen und dem Schlafengehen noch überbrücken konnte, damit die lärmende Horde Zwölfjähriger nicht alle Füchse in der Umgebung für Jahrzehnte vertrieben hätte. Da fiel mein Blick auf das Heft mit Erzählungen von London, das bei uns zu Hause auf der Nachtkonsole neben meinem Bett lag. Ich nahm es mit und bereute es nicht. Ich hatte nicht geahnt, was für einen tiefen Eindruck auf sie Londons Geschichte von einem Mann machen konnte, der verletzt und entkräftet durch eine felsige Gegend kroch und von einem angeschlagenen kranken Wolf verfolgt wurde. Ich sah in den Augen der Kinder neben den gespiegelten Zungen des Lagerfeuers das Mitleid mit allen beiden – dem Wolf und dem Mann –, als sie begriffen, dass beide nur auf den Tod des anderen warteten, um sich etwas Nahrung zu verschaffen. Der Mann in der Geschichte überlebte wie durch ein Wunder, aber ich machte die Kinder darauf aufmerksam, dass er möglicherweise weniger gelitten hätte, wenn er hinter einem Felsvorsprung Brennholz für ein Feuer und eine Kleinigkeit zum Essen fand. Gleich am nächsten Tag sammelte meine Mannschaft vor dem Verlassen unseres Camps einen kleinen Holzvorrat und legte ihn neben der kalten Feuerstelle ab. Ich war sehr gerührt.
Möglicherweise war es auch im Hochgebirge von Madeira nicht anders, ich wusste es nicht, aber vorstellen konnte ich es mir sehr gut. Geli holte den Joghurt aus dem Rucksack und sagte: »Hier, die Nachspeise!« »Ach ja, richtig«, erinnerte ich mich an die unterbrochene Mahlzeit. »Schön wäre noch was zum Sitzen.« Der Platz auf dem Bergkamm hatte keine einzige Sitzgelegenheit, sodass wir unsere Rast darauf beschränkten, den Joghurt auszulöffeln. Eine Ausschau gab es nur in südliche Richtung auf den Curral das Freiras. Langsam öffnete sich die Sicht auf die Gipfel des Ostrands des Nonnentals, die weiße Kugel des Observatoriums am Pico do Arieiro war ein guter Orientierungspunkt, sie glänzte in den Sonnenstrahlen und war kilometerweit zu sehen. Nach Norden zu verdeckten größere Bäume die Sicht. Der Pfad überquerte am Anfang des Zeltplatzes den Grat und verschwand unten im grünen Dickicht auf der Nordseite. Der Wald war hier vom Feuer verschont geblieben.
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![]() Die weiße Kugel des Observatoriums am Pico do Arieiro Bis jetzt hatten wir uns nicht übermäßig anstrengen müssen. Der Pfad verlief zwar in ständigem Auf und Ab über Anhöhen und Senken, aber der Höhenunterschied war erträglich, sogar ich war kein einziges Mal außer Atem geraten. Trotzdem bedeckten Schweißperlen meine Stirn und das Hemd war feucht. Es lag bestimmt daran, dass ich nach dem Mittagessen ein gutes Tempo vorgelegt hatte, denn die Sonne stand zwar noch hoch am Himmel, aber meine Lektion hatte ich gelernt und wusste genau, wie schnell sich das ändern konnte. Wir hatten noch eine gute Hälfte des Weges vor uns und im Wanderführer stand etwas von kräftigen Anstiegen, bevor ein langer Abstieg zum Encumeadapass beginnen sollte! »Dann versuchen wir mal die Nordseite!«, sagte ich feierlich, als wir bereit waren, dem Pfad nach unten auf die üppig bewachsene Nordseite zu folgen. »Warte, ich trinke noch einen Schluck Wasser.« Angelina blieb stehen und holte ihre kleine Wasserflasche aus dem Rucksack. Wir standen auf dem Scheitel, sie trank ihr Wasser, ich wandte mich zur Nordseite und sah in die enge Waldschneise hinein, die der Weg bildete, als plötzlich ein kurzes dumpfes Geräusch neben meinem Ohr meine Überlegungen unterbrach. Wumm! Es hörte sich an, als wäre nur ein paar Zentimeter von meinem Kopf entfernt ein Geschoss vorbeigeflogen. Die Druckwelle spürte ich immer noch in meinem rechten Ohr. Ich sah auf und bemerkte einen mittelgroßen Vogel, der aus meiner Richtung auf die Nordseite des Kamms hinausflog und sich dann in der Ferne auflöste. Das war aber ein merkwürdiger Vogel gewesen, überlegte ich, als wir kurz darauf wieder den Weg beschritten. Irgendwelche Motten, die er hätte jagen können, nahm ich in meiner Nähe nicht wahr. Das Einzige, was bei einer Bergwanderung absolut sicher war und sich während der zwei Wochen mehrmals bewahrheitet hatte, war der Umstand, dass einem Abstieg immer ein Anstieg folgte. Oder auch anders herum, es hing nur davon ab, wie optimistisch man sein wollte. Ein mittelschwieriger Abschnitt, wo der Pfad am Hang in Serpentinen steil nach oben führte, ließ nicht lange auf sich warten. Vermutlich liefen wir gerade um einen der Gipfel herum und mussten auf seiner anderen Seite wieder auf den Grat, der möglicherweise etwas höher lag als vorhin. Es war etwas schwierig mit der Orientierung, dichte Vegetation verdeckte die Sicht. Den gewundenen Pfad bemerkte ich schon von Weitem, nachdem wir auf den Rand eines lichten Waldes hinausgekommen waren, wo zwischen den Bäumen wunderschöne hellblaue bis fliederfarbene Blumen blühten. Die menschengroßen Gewächse überwucherten den ganzen Hang, aber oben konnte man in dem Blumenmeer die Kehren des Weges erkennen. Ich holte tief Luft.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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