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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 82
»Caminho!« Er bekräftigte zum Schluss seine Aussage mit einer resoluten abschließenden Handbewegung, die darauf hindeutete, dass uns ein steiler Aufstieg unmittelbar bevorstand. Er hatte natürlich recht! Nach fünfzig Metern öffnete sich meinem Blick ein betonierter Fußweg, der schnurgerade nach oben zum Gipfel des Hügels führte, mit einem Gefälle von fünfundvierzig Grad. Glücklicherweise besaß der Pfad ein Geländer, an dem man sich mit den Händen hochziehen konnte, wenn die Beine versagten. Das Wort »Caminho« fiel während des viertelstündigen Aufstiegs noch mindestens dreißigmal – überwiegend in Sätzen, die ich mit äußerster Sorgfalt formulierte, indem ich passende Vokabeln aus dem tiefen Brunnen des volkstümlichen Wortschatzes schöpfte und laut über die Unabwendbarkeit der Zerstörung alpiner Landschaften auf unserem Planeten philosophierte, insbesondere über die wünschenswerte Abflachung steiler Gebirgszüge infolge der Erosion! »Caminho!«, artikulierte Geli spitzzüngig das Wort zum einunddreißigsten Mal, nachdem ich schweißgebadet oben angekommen war, und machte das Foto.
João Paulo kam sehr gelegen zu unserem Tisch im Aufenthaltsbereich, fragte nach unserem Wohlbefinden und wollte wissen, ob ein kleines Bier jetzt das Richtige gewesen wäre. Und ob! Genau das hatte ich schon die ganze Zeit vermisst und kam einfach nicht darauf, was mir fehlte, bis der freundliche junge Mann mich daran erinnerte. Er verdiente schon mal ein Trinkgeld, das stand fest. Eine Reihe von Bildern, die uns während unserer Wanderung rund um das Tal von Tabua an der Levada Nova festgehalten hatten, folgte dem Caminhofoto.
Wir fotografierten uns pausenlos gegenseitig. Bald stand ich am Rande des Rinnsals vor dem Hintergrund des weiten blauen Ozeans, bald setzte sich Geli in Szene vor einem Kakteenbusch, der mit wunderschönen orangefarbenen Blüten Insekten anlockte. Die schmale Levada führte schon lange kein Wasser mehr, sie war ein Überbleibsel aus alter Zeit, als noch Regen und Nebel die Südseite der Insel verwöhnt hatten. Ein paar Zentimeter stehendes Wasser am Boden des Kanals war veralgt und diente höchstens als Kinderstube für Moskitos. Sie wurde nicht mehr betrieben, zumindest nicht im Sinne eines Wasserlaufs, erfüllte aber ihre Aufgabe als Ausflugsziel für Touristen ziemlich zuverlässig. Immer wieder begegneten wir mal einem Ausflüglerpärchen, mal einem einsamen Naturforscher. An einer engen Stelle war es sogar eine zehnköpfige Gruppe britischer Kollegen, die den Weg blockierten, während sich ihr Ausflugsleiter auf die andere Levadaseite stellte und den Teilnehmern fünf Minuten lang jeden einzelnen Baum in der Umgebung erklärte. Unser gedruckter Wanderführer empfahl eine Umkehr auf der anderen Seite des Tals in Candelária, wo Levada Nova endete und unter einem Betonweg verschwand. Wir entschieden uns allerdings für einen anderen Routenverlauf und folgten dem betonierten Caminho steil abwärts.
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![]() Caminho Die Fotos zeigten nunmehr schöne Aussichten auf die Küstenlinie. Diese Bilder waren aber schon von der geteerten Serpentinenstraße gemacht worden, ein paar hundert Meter tiefer am Hang. Zwischen dem Foto, wo ich mich auf einem felsigen Hügelchen am Ende der Levada ausruhte, und den Küstenansichten gab es eine Lücke, die aus einem guten Grund entstanden war. Der Caminho war so steil, dass Geli nicht einmal auf den Gedanken kam, die Kamera herauszuholen. Wir mussten stellenweise regelrecht nach unten laufen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Betonpfad war von Häusern gesäumt und ich fragte mich gerade noch ein letztes Mal, wie wohl die Menschen hier ihr Zuhause erreichten, als wir auf der linken Seite ein neu erbautes Haus sahen, auf dem eine Werbetafel auf Deutsch angebracht war: »Ferienhäuser zu vermieten«. Es war mir schleierhaft, welch ein normaler Mensch an diesem Caminho eine Unterkunft gebucht hätte. Auf die Empfehlung des Wanderführers kehrten wir in einer Wirtschaft im Ort ein, um ein Eis zu essen und eine Cola zu trinken. Der Wirt der Snackbar scheuchte seine Kinder aus dem Gästeraum, die sorglos ihre Spiele auf dem Fußboden veranstalteten, und freute sich ungemein, dass er zur Abwechslung auch mal Kundschaft bekam. Er gab uns prompt alles, was wir haben wollten, und empfahl uns wärmstens, nicht den Betonpfad zu benutzen, um nach unten zur Küste zu kommen, sondern den viel längeren Weg auf der normalen Straße in Kauf zu nehmen. Ich folgte seinem Rat.
João Paulo brachte das Bier und stellte es auf dem Tisch ab. Ich gab ihm eine Handvoll Kleingeld für seine Dienste, er sollte seine Belohnung direkt bekommen, denn das Bier wurde grundsätzlich auf das Zimmer angeschrieben, sodass keine Abrechnung mit ihm stattfand. »Sollen wir mal eine rauchen gehen?«, schlug ich vor, nachdem sich der Kellner bedankt und sich wieder hinter seinen Rezeptionstresen begeben hatte.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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