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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 74
»Fahren wir mit dem Schlitten nach unten?«, meldete sie sich zu Wort. »Vielleicht, mal sehen!« Ich freute mich, dass das Thema »Botanischer Garten« erst mal von der Tagesordnung verschwunden war, und war bereit, Zugeständnisse zu machen. »Der Schlitten bringt dich aber nicht zurück in die Stadt. Wir müssen dann noch wahrscheinlich eine Stunde zum Hafen zu Fuß gehen!« Ich erinnerte mich an eine Bewertung im Internet, die irgendeine Dame bezüglich ihrer Kreuzfahrt und ihres Aufenthaltes in Funchal hinterlassen hatte. Sie beschimpfte mit übelsten Ausdrücken die Taxifahrer von Funchal, die ihr Preise weit jenseits ihrer Vorstellungen genannt hatten, und sie sich deswegen während des einstündigen Spaziergangs von der Endstation der Schlittenfahrt zu ihrer Kajüte die schönen Absätze kaputtgemacht hatte. »Wir können ja ein Taxi nehmen!«, meinte meine Frau. »Wir könnten, klar. Keine Ahnung, wie viel es kostet! Und wie viel so ein Schlitten kostet, wissen wir auch nicht. Lass uns zuerst hingehen und gucken«, schlug ich vor. »Fünfundzwanzig Euro!«, sagte Geli sicher und ging zum Tor des Jardim Tropical, wo die gepflasterte Straße anfing. »Was, fünfundzwanzig Euro?«, fragte ich, nachdem ich sie eingeholt hatte. »Fünfundzwanzig Euro kostet eine Schlittenfahrt! Steht im Reiseführer.« Sie war erstaunlich gut informiert! Wir liefen entlang der halbhohen Mauer, die den Tropischen Garten umgab, zum Ausgangspunkt der Abfahrt mit den carros de cesto. So bezeichneten die carreiros – die Schlittenführer in Madeirahüten – ihre Gefährte, die nichts anderes waren als ein zusammengezimmertes Gerüst mit zwei Holzkufen, auf dem ein Korb mit einer Sitzbank montiert war. Geli warf einen Blick über die Mauer durch die schmiedeeisernen Stäbe des Zauns, auf der anderen Seite ging es steil nach unten und an dem Hang gediehen exotische Gewächse. Ein Trampelweg schlängelte sich in Serpentinen zwischen Baumfarnen, Azaleen und Orchideen, irgendwo plätscherte ein Springbrunnen und in den Bäumen sangen seltsame Vögel ihre Liedchen. Sie fragte: »Warum willst du nicht in den Botanischen Garten? Sieh doch, wie schön es hier aussieht!« »Zum einen hätte ich jetzt nicht die geringste Lust, auf diesem Hang zu wandern, und zum anderen: Das ist doch gar kein Botanischer Garten!« Angelina sah mich verdutzt an. »Was dann?« »Jardim Tropical! Das ist der Tropische Garten«, klärte ich meine Frau auf, denn offenbar hatte sie noch nicht mitbekommen, wie ungewöhnlich hürdenreich der Weg zum Botanischen Garten war.
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![]() Straßenmusiker in Monte Die Vögel im Park waren nicht die Einzigen, die den Touristen auf dem gepflasterten Weg ihre Serenaden vortrugen. Ich hörte schon die ganze Zeit jemanden Akkordeon spielen. Es waren zuerst kaum wahrnehmbare Klänge gewesen, die immer lauter wurden, je weiter wir auf der Straße vorankamen. Es war immer dasselbe Stück, das der Musikant nach kurzen Unterbrechungen anstimmte, doch er spielte es meisterhaft virtuos, sodass ich sogar neidisch auf seine Fingerfertigkeit wurde. Die Melodie hatte etwas Trauriges an sich, ließ aber Hoffnung entstehen, wenn der Refrain einsetzte, und entwickelte sich zum Schluss zu einer rasenden, energiegeladenen Tanzmusik mit unglaublich schnellen Passagen. Es war vermutlich eines der madeirensischen volkstümlichen Lieder, die Bilder von schroffen, felsigen Klippen in tosender Brandung und Wehklagen über ein beschwerliches Leben in sich trugen, aber auch Freude und ausgelassene Stimmung eines Volksfestes, wo Madeirawein floss und stürmisch getanzt wurde. Hinter der nächsten Biegung sahen wir einen stämmigen portugiesischen Jungen, vielleicht vierzehn, höchstens sechzehn Jahre alt. Er saß auf einem fast antiken von Termiten angeknabberten Stuhl an der Mauer und hielt sein Akkordeon auf dem Schoß, seine Hände ruhten auf dem Instrument und stützten sein Kinn. Der junge Mann sah träumerisch vor sich hin mit einem nichts sehenden Blick in Erwartung neuer Zuschauer, um sie durch die Wunder seiner Kunst zu führen. Auf einer leeren roten Bierkiste, die vor ihm hochkant stand, hatte er ein Taschentuch ausgebreitet – es lagen ein paar Münzen darauf und luden Passanten dazu ein, eine Spende zu entrichten. Der Straßenmusiker richtete sich ruckartig auf und spielte sein Stück vor, als er uns bemerkte. Seine Finger hasteten über die Tasten wie Blitze über den Himmel. Wir hielten an und hörten ihm zu, bis er den letzten Akkord seinem Instrument eindrucksvoll entlockte, indem er den Balg abrupt zusammenpresste. Die Musik hörte mit einem Mal auf und es wurde still. Ich gab ihm eine Handvoll Münzen, er war wirklich gut und er tat mir leid in seiner ausgefransten Hose und einer abgetragenen Fleecejacke, die wahrscheinlich schon sein älterer Bruder vor fünf Jahren getragen hatte. Geli machte ein Foto, er lächelte breit in die Kamera, aber seine Augen blieben traurig. Traurig wurde auch der Gesichtsausduck meiner Frau, als wir in Kürze an der Nossa Senhora do Monte eintrudelten. Die Wallfahrtskirche stand auf einer großen, künstlich an der Hangschulter aufgeschichteten Terrasse, die zur Straße hin wie eine hohe Mauer aussah, sodass man vom Gebäude nur die Spitzen der beiden Türme sehen konnte. Gut sichtbar war dagegen eine lange Schlange in der kleinen Gasse unten neben der Kirche. Die Leute warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, um die rasante Schlittenfahrt zu erleben, – der Einstiegspunkt befand sich gleich hier. Ich hatte den Eindruck, dass all die Touristen, die vor einer Stunden den Bahnhof in der Stadt gestürmt hatten, jetzt hier oben Schlange standen. Es lief zwar hin und wieder manch ein Carreiro über die Straße, aber Schlitten waren keine zu sehen, die Schlange bewegte sich keinen Millimeter.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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