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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 36

»Ganz einfach. Vor dem Aussichtsplatz kommt ein steiler Gegenanstieg. Ob ich dann noch weiter gehen kann, weiß ich nicht«, erläuterte ich die Gründe für meine Entscheidung bei der Auswahl des Platzes für eine Rast.

»Wie du willst«, bemerkte Geli friedselig. Sie sah jetzt auch ziemlich fertig aus, ihre Waden machten ihr beim Abstieg zu schaffen.

Zu meiner Freude liefen wir noch einige Zeit im Schonbetrieb. Wir beschleunigten, bremsten ab und beschleunigten wieder. Als wir den großen Stein am Wegrand erreichten, auf dem ich vorhin gerastet hatte, wusste ich, dass der Pfad schon bald sein Gefälle änderte.

Auf dem schönen Aussichtsplatz, der am Ende des gefürchteten Gegenanstiegs lag, war ich in keiner guten Verfassung angekommen. Angelina auch nicht. Wir hatten fünf Minuten gebraucht, um zu sich zu kommen. Ihre Erschöpfung konnte Geli jetzt auch nicht mehr verbergen: Sie atmete schwer, ihre Ohren waren purpurrot, Schweiß floss über ihr Gesicht. Sie setzte sich auf den Boden, ich versuchte in gebückter Stellung, die Hände auf den Knien, der Kraftlosigkeit Herr zu werden. Das letzte Wasser teilten wir uns gerecht, als wir wieder einigermaßen fest auf den Beinen stehen konnten. Die Flasche war jetzt leer und wir hatten nichts mehr, womit Körperressourcen aufgefüllt werden konnten. Zwei Drittel des langen Weges hatten wir noch vor uns. Man konnte wieder das Tal von Ribeira Brava sehen. Und unser Hotel natürlich auch! Es war aber so winzig klein, dass bei mir die ersten Zweifel aufkamen, ob wir es heute noch erreicht hätten. Ich sah auf die Uhr, es war Viertel vor fünf. Eigentlich lagen wir gut in der Zeit, aber es war erst ein Drittel des Weges, wo wir fast nur abwärts wandern mussten. Mein Lieblingshang präsentierte sich auch in voller Pracht. Alles war so wie gehabt, alles war so wie erlebt. Der Pfad schlängelte sich in gepflasterter Version nach oben zum Felsvorsprung, den wir gleich betreten sollten. Am Erlkönigshang fing das letzte abschüssige Stück an, das bis zur alten Bogenbrücke ging. Danach mussten wir wieder nach oben zum Pass von Encumeada.

Der Felsvorsprung zog sich unendlich an der Flanke des Berges. Die auf den ersten Blick unbedeutenden Unebenheiten mit einem kleinen Anstieg machten mich wahnsinnig, der dickflüssige Speichel sammelte sich wieder im Mund. Ich war gleich zu Anfang wie gewohnt zurückgefallen, hatte aber trotzdem keine Zweifel, dass meine Frau nicht mehr als fünfzig Meter Vorsprung gewinnen konnte. Sie humpelte gerade da vorne, geplagt von ihren Wadenkrämpfen. Am Ende des Berges hielten wir kurz an, hauptsächlich wegen Geli, die sich die Waden vor dem steilen Abstieg massieren wollte.

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Aussicht auf den Hang und das rote Dach des Hotels
Aussicht auf den Hang und das rote Dach des Hotels

Dass man den verhexten Hang so schnell hinunterlaufen konnte, hätte ich nie gedacht. Der Abstieg ähnelte eher einer Rodelbahnfahrt, nur dass der Schlitten fehlte. Ich musste mich im Laufschritt bewegen, meine Füße berührten kaum den Boden. In den Kurven legte ich mich fast auf die Seite wie ein Slalomfahrer, um nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Es schlauchte, der Hang raubte mir wieder die letzte Energie. Im Gegensatz zu heute Morgen gab ich das Letzte, um nicht so schnell voranzukommen. Wir hatten mit Geli unsere Rollen getauscht: Während ich schon eine Weile unten an der kleinen Steinmauer stand, wo wir am Vormittag unsere Bananen verzehrt und Jean-Luke zugehört hatten, hatte sie nur noch die Hälfte des Hanges hinter sich. Sie war auf dem steilsten Abschnitt und konnte nur rücklings laufen. Es ging nicht anders herum.

»Wir werden jetzt langsamer gehen«, versprach ich ihr, nachdem sie mit einem vor Schmerz verzerrtem Gesicht auf dem kleinen Plateau angekommen war.

»Ich kann …«, keuchte sie mich an. »Ich kann nur nach unten nicht so gut. Sonst ist es okay.«

»Ja, ich weiß. Und zufällig geht es gleich wieder nach unten!«

Wir machten kurz Station auf dem Bergrücken. Der rote Punkt am Hang, der das Ziel unserer Wanderung kennzeichnete, sah jetzt deutlich größer aus als vorhin – das ließ hoffen und träumen. Inwieweit dieser Traum sich verwirklichen ließ, stand noch in den Sternen. Wir schleppten uns weiter den Bergrücken hinunter, nachdem wir uns etwas erholt hatten. Der Wandermodus »beschleunigen – abbremsen – beschleunigen« funktionierte auch nicht mehr richtig. Wir waren zu müde. Ich erinnerte mich aber noch, dass der Pfad nach etwa einem Kilometer flacher werden sollte, bevor er das verlassene Haus an der alten Bogenbrücke erreichte. Das hätte Angelinas Leiden gelindert. Ich überlegte, ob wir dort an der Brücke unsere Flasche mit dem Wasser aus dem Bach auffüllen konnten. Es war sauberes, klares Bergwasser, das wusste ich noch genau, ich wusste aber nicht mehr, ob es auch einen Zugang zum Bach gab. Der Durst quälte, der Hunger auch. Die zwei Bananen von heute Vormittag wären jetzt nicht schlecht gewesen. Oder einfach etwas Süßes, um einen Kalorienschub zu bekommen – eine Tafel Schokolade! Mir ging eine alte Geschichte durch den Kopf.

 

Fünfzehn, vielleicht sechzehn, mussten wir damals gewesen sein. Wir gingen noch alle zur Schule. Es war eine verschworene Clique – jeder durfte etwas sagen und jeder wurde erhört. Eines Tages im Frühling hing die ganze Bande auf dem Schulhof ab. Es war einer der ersten warmen Abende im Mai, die den nahenden Sommer ankündigten. Die Natur blühte auf und die Hormone spielten verrückt. Wir trieben Blödsinn, rauchten hinter vorgehaltener Hand und vielleicht machte auch manch eine Flasche Bier die Runde, als jemand einen Vorschlag machte.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 11.973
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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