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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 34
»Wo müssen wir denn jetzt hin?«, dachte ich laut, als wir nach einer Viertelstunde zu einer Kreuzung kamen. Hier gabelte sich der Weg. Zwei Bretter, genagelt an einen Holzpfosten, zeigten die möglichen Richtungen an: Auf einem stand Relvinha, auf dem anderen Encumeada. Von Encumeada kamen wir gerade her, den Namen Relvinha sah ich zum ersten Mal! Der Weg geradeaus führte auf den Grat und verschwand in der Ferne in südlicher Richtung. Das war der Königspfad, der zur Küste hinunterlief, nahm ich an, denn ausgeschildert war diese Richtung nicht. Aber da wollten wir nicht hin, ich hatte heute nicht mehr vor, neue Orte kennenzulernen oder sonstige Überraschungen zu erleben. Der Name Curral das Freiras hätte vollkommen gereicht, er stand aber nicht auf den Wegweisern. Es bot sich nichts Besseres an, als Relvinha auszuprobieren, wir nahmen den Abzweig nach links, der auf einen kleinen länglichen Hügel führte. Es dauerte nicht lange, bis wir auf seiner anderen Seite vor einer weiteren Gabelung standen. Die angezeigten Richtungen waren jetzt aber nicht mehr wichtig – wir waren dort, wo wir hinwollten. Am Rande des riesigen Curral das Freiras. Der Kessel war noch gewaltiger als der von Ribeira Brava. Die höchsten Bergspitzen der Insel türmten sich rund um den Abgrund und man hatte eine kilometerweite Aussicht. Wir befanden uns auf einer Höhe mit den aufgelockerten Wolken, die hin und wieder über die Schlucht zogen. Oben schien ungehindert die Sonne, unten war es schattig. »Gib mir mal die Flasche«, sagte ich, als wir unsere Rucksäcke abgelegt hatten. Ich trank wenig aber gierig. Das erfrischende Nass tat gut und spülte die Reste des klebrigen Speichels hinunter. »Lass mich auch mal was trinken«, erinnerte mich meine Frau an ihre Anwesenheit. Ich reichte ihr die Flasche und schaute mir die Holzschilder an der Kreuzung an. Auf einem stand ein schlichtes »Pico«, das andere zeigte auf den Pfad, der nach Curral das Freiras abging. Weder das eine noch das andere wäre heute noch zu schaffen gewesen. Hier auf diesem Pass war heute definitiv Schluss. Wenn Geli gleich wieder angefangen hätte, mir irgendwas von einer Taxifahrt zu erzählen, hätte ich sie gefesselt und hinter mir nach unten geschleppt. Ich wandte mich wieder dem Talkessel zu und betrachtete die roten Dächer des Ortes auf einem vorstehenden Hügel weit unten im Tal, als ich auf einmal aus dem Gebüsch hinter mir eine bekannte Stimme hörte. Jean-Luke mit seiner Truppe war im Anmarsch. Sie wanderten den »Pico«-Pfad herunter. Seitdem wir die Franzosen zum letzten Mal gesehen hatten, waren schon mindestens drei Stunden vergangen. In der Zwischenzeit war ich vom Berg gebrochen worden, sie hatten ihrerseits den stolzen Pico Grande bezwungen und waren zum Teil auch am Ende, man konnte es an ihrem Gesichtsausdruck erkennen. Nur Jean-Luke führte unbeeindruckt die Kolonne an, plapperte etwas ununterbrochen und zeigte mit seiner Hand energisch bald nach rechts, bald nach links. Wurde der Mensch auch irgendwann müde? Bonjours blieben diesmal aus, als die Gruppe vorbeizog, wahrscheinlich war es auch den Franzosen zu bunt mit uns geworden.
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![]() Aussicht auf Curral das Freiras »Hast du gesehen, da unten ist Curral …«, fing meine Frau den von mir gefürchteten Satz an. »Nein!« »Dann guck, da unten«, fuhr sie fort. »Es ist auch gar nicht so weit.« »Nein«, erwiderte ich und gab mit dem Ton zu verstehen, dass keine Verhandlungen zu diesem Thema vorgesehen waren. »Es bedeutet, wir werden da nicht hinunterlaufen. Auf gar keinen Fall.« »Wir könnten doch …« »Nein!« Meine Frau sah wohl ein, dass sie in dieser Situation mit ihrem Vorhaben nicht weitergekommen wäre. Sie verstummte. Ich glaubte, es war einfach ihr Trotz, der sie gerade antrieb. Sie war sehr müde, ihr Gesicht war rot wie eine halbreife Erdbeere, zwischen den Härchen an den Schläfen glänzten noch Schweißperlen. Es hätte mich auch gewundert, wenn die Anstrengungen der letzten sechs Stunden an jemandem spurlos vorbeigegangen wären. Ich sagte ruhig aber sehr unmissverständlich: »Ich kann dir sagen, wie es jetzt weitergeht. Es ist drei Uhr, wenn wir die Aussicht hier nicht mehr so lange genießen und bis halb vier aufbrechen, kriegen wir heute noch möglicherweise ein warmes Essen im Restaurant. Wenn wir aber noch ein paar Stunden Pfade im Curral erforschen, können wir uns auf eine kalte nebelige Nacht im Freien einstellen. Ohne Tageslicht kommen wir in diesem Gebirge nicht weit. Ich ziehe das Hotelzimmer vor. Wir ruhen uns noch etwas aus und treten gleich den Rückweg an.« Geli war anscheinend einverstanden, denn ich vernahm keine Proteste. Es war schon erstaunlich, wie schnell sich der Körper regenerieren konnte. Noch vor einer Stunde hatte ich mich kaum auf den Beinen halten können und alles in der Welt war mir einerlei gewesen, jetzt hatte ich in meinem Kopf wieder etwas, was sich wie ein konkreter Plan anhörte. Gedanklich teilte ich die Strecke bis zum Hotel in drei Abschnitte ein. Nach jedem sollte eine Rast eingelegt werden – höchstens zwanzig Minuten. Es war mir bewusst, dass wir zwischendurch mit Sicherheit außer Atem geraten wären und eine kleine Pause gebraucht hätten, so entkräftet, wie wir waren. Die dritte Etappe bereitete mir größere Sorgen. Es war der lang gezogene Anstieg von der Bogenbrücke zum Encumeadapass. Was hatte ich mir noch mal heute früh gesagt? Wir hätten den Aufstieg mit Leichtigkeit gemeistert, da das Gefälle so gering war? Mittlerweile wusste ich genau, wie zermürbend zwei Kilometer bergauf waren. Ich konnte mich noch lebhaft dessen entsinnen, wie jeder weitere Schritt mir den letzten Mut und den letzten Willen geraubt hatte. Man musste aber erst dort sein, um die Situation einzuschätzen. Davor lag auch noch ein verdammt langer und steiniger Weg. Nach meiner Schätzung hätten wir es in vier bis fünf Stunden bis zum Hotel geschafft, wenn alles gut gegangen wäre.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
Zahlen & Daten zum Werk
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