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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 30
»Bist du denn wahnsinnig?«, fragte ich entsetzt. »Da willst du jetzt hochwandern? Das schaffe ich nie!« »Doch!« »Aber im Leben nicht!«, brachte ich meine Sicht der Dinge wiederholt zum Ausdruck. »Da geht der Weg schon nach unten!«, blieb Geli auf ihrem Standpunkt und deutete mit dem Kopf auf den Pfad, der sich tatsächlich nach der Kurve leicht abfallend zwischen den braunen Flechten schlängelte. »Nee! Lass uns zurückkehren. Ich gehe hier kaputt!« »Na ja … zurück … Weg …« Sie brummte etwas halblaut vor sich hin, was ich zwar als eine widerwillige, dennoch eine Zustimmung wertete. Ich wandte mich ab und genoss noch die Aussicht vor dem langen Rückweg. Ich nahm an, dass die Sache geklärt war, unterschätzte jedoch den Unternehmergeist meiner Frau. Als ich mich wieder umdrehte, um das Horn zum Abstieg zu blasen, stand keiner mehr an meiner Seite. Die gelbe Wanderhose war weg. Man konnte nur noch ihre Fragmente zwischen bemoosten Lorbeerstämmen und hellgrünen Schachtelhalmen vorne auf dem Pfad in Richtung Curral das Freiras erahnen. »Verdammte Scheiße!«, dachte ich empört. »Das war Absicht.« Es machte auch keinen Sinn ihr nachzurufen, sie hätte so getan, als hätte sie mich nicht gehört. »Verflucht! Dieses eigensinnige Weib!«, schimpfte ich immer weiter. Sie wusste ganz genau, dass ich sie hier auf diesem blöden Berg nicht allein gelassen hätte. Sie überlegte es sich gründlich, dass ich gezwungen gewesen wäre, ihr hinterher zu laufen. »Nach Curral das Freiras willst du unbedingt! Noch heute. Um jeden Preis! Hinterhältig und gemein …«, fällte ich zum Schluss mein endgültiges Urteil. Die Meinung der Verteidigung interessierte mich nicht im Geringsten. Wohl oder übel, ich musste hinterher. Meine »Gelbe Wanderhose« hielt jetzt den nötigen Abstand, damit ich meiner Wut nicht in ihrer Nähe Luft machen konnte. Ans Einholen in meiner Verfassung war nicht zu denken, obwohl die ersten hundert Meter abschüssig waren und ich zügig vorankam. Damit mir das Bergwandern nicht so einfach vorkam, änderte der Königspfad in kurzen Abständen sein Gefälle. Einem zermürbenden Anstieg folgte ein leicht abfallender Abschnitt. Von der »frischen Pflasterung« war so gut wie nichts mehr da. Es war ein verstaubter Trampelweg, der über scharfkantige Steine, dicke Wurzeln und quer liegende Baumstämme verlief. Man musste permanent aufpassen, wo man hintrat, um nicht auf die Nase zu fliegen. Es ließ sich nur bedingt umsetzen, denn ich schnaufte und strengte mich an wie ein vor den Pflug gespannter Ochse. Meine Brille musste alle drei Minuten vom Schweiß geputzt werden, was auch nicht besonders viel nützte, weil die dicken Schweißschlieren auf den Gläsern alles noch unschärfer machten.
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![]() Wieder allein Die Pflanzenwelt des versteckten Tals am Fuße des Gipfels war anders als die Botanik auf der anderen Bergseite. Während sich der Hang auf der dem Tal von Ribeira Brava zugewandten Seite meist mit kahlem Fels und ein paar zur Hälfte vertrockneten Brombeersträuchern präsentierte, erinnerte mich die Vegetation hier immer mehr an die Welt der Hobbits im Folhadal, nur dass ich hier keine Kobolde entdecken konnte. Das hatte einen einfachen Grund: Ich hatte weder die mentale Kraft, um mir Trolle am Hang einzubilden, noch wollte ich erneut Kontakt mit dem Erlkönig aufnehmen, dazu fehlte nicht mehr viel! Nach einer halben Stunde hörte das Hoch-und-Runter-Spiel auf, es gab nur die Begriffe steil und weniger steil, um den Wegverlauf zu beschreiben. So etwas hatte ich erwartet. Es war unvermeidbar, wenn man mit den dreihundert Metern Höhenunterschied zum Pass dort oben fertig werden wollte. Es gab keine Rettung. Keine! Der Pfad zog sich unbeirrbar nach oben und es lagen noch zwei Kilometer vor mir. Am meisten ärgerte mich die Tatsache, dass man den Anstieg im Dickicht des Lorbeerwaldes kaum mit den Augen wahrnehmen konnte. Man glaubte, einen mehr oder weniger waagerechten Abschnitt erreicht zu haben, und stellte sich auf eine vorübergehende Entlastung ein. Doch der Anblick täuschte und die Beine logen nie. Ich kam mir vor wie ein Häftling mit einer schweren Kette an den Füßen, an der eine riesige Kugel aus Gusseisen befestigt war. Der ekelhafte klebrige Speichel füllte wieder meinen Mund, es war ein deutliches Zeichen, dass ich erschöpft und dehydriert war. Ich hielt an einem großen braunroten Stein, der unter einem überstehenden Felsen neben dem Pfad mit der flachen Seite nach oben lag, ließ mich darauf nieder und versuchte mich zu orientieren. Weder der Pass noch die Schlucht konnten dabei als Orientierungspunkte dienen, übermäßig große Baumfarne und üppig wuchernde Blumensträucher verhinderten die freie Sicht. Aber von der Zeit und der Entfernung her, die ich vorhin am Anfang der Schlucht geschätzt hatte, musste der Pfad schon sehr bald nach rechts abknicken. Die Steilwand des Pico Grande durfte nicht mehr weit sein. Wasser hatte ich nicht, einen Schluck hätte ich jetzt brauchen können. Das hatte meine widerspenstige Frau, die gerade mit einer halben Stunde Vorsprung irgendwo pfadaufwärts in der Gegend umhergeisterte. Statt Wasser zu trinken, rauchte ich eine Zigarette, die erste seit Stunden, in denen ich fast gestorben, wiederauferstanden und abermals nahe dem Zustand der prämortalen Erfahrungen war. Sie tat mir gut, insofern man das Wort auf den Tabakkonsum beziehen konnte, zumindest klärte sich mein Verstand wieder und der Atem ging viel ruhiger.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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