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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 29

»Ganz einfach: Zum Curral und mit dem Taxi zurück ins Hotel«, packte Geli wieder ihre alte Leier aus. »Das wollten wir doch so machen!«

»Schau doch mal …«, versuchte ich ganz ruhig, sie zu überzeugen. »Wir haben bald ein Uhr nachmittags. Wie weit es noch bis zu diesem Curral ist, weiß nur der Geier. Wir wissen nicht annähernd, wie lange wir bis dahin brauchen werden. Ich kann mich nur im Schneckentempo bewegen. Noch so ein Aufstieg wie vor einer Stunde und ich bleibe dort liegen. Wir haben nichts zu essen und das Wasser reicht noch für zwei Stunden. Es geht auf der anderen Seite garantiert wieder aufwärts, ich sehe es schon kommen. Auch wenn alles gut geht, kommen wir in deinem Curral an, wenn es vielleicht schon dunkel ist. Glaubst du im Ernst, dass dort noch ein Taxi auf uns wartet?«

»Der Weg geht aber gleich nach unten«, bestand Geli unbeirrbar auf ihrem Vorhaben. »Curral das Freiras liegt in einem tiefen Tal. Nonnen haben sich da vor Piraten versteckt. So steht es in unserem Madeirabuch!«

»Ja, verdammt! Aber bevor wir ins Tal hinunter können, müssten wir irgendeinen Pass erreichen, von wo es nach unten geht. Kannst du mir hier irgendwas zeigen, was wie ein Pass aussieht?«

»Er ist bestimmt hinter diesem Berg«, antwortete sie trotzig.

»Hinter diesem Berg? Ich kann dir sagen, was hinter diesem Berg ist. Da ist noch ein Berg und, glaub mir, er ist zweimal so groß wie dieser! Man nennt ihn auch Pico Grande. Komm jetzt, lass uns gehen, wir werden es in einer halben Stunde erfahren!«

Der Weg war erwartungsgemäß ziemlich eben. Nur an wenigen Stellen musste ich mich vor Anstrengung schnaufend mit dem leicht ansteigenden Pfad auseinandersetzen. Doch nach einer kurzen Pause normalisierte sich in aller Regel mein Atem wieder und ich konnte weiterwandern. Durch die Unterbrechungen fiel ich zurück. Ich hatte wiederholt den Fehler gemacht, Angelina an der Spitzenposition wandern zu lassen. Sie hatte gleich in den Gang »volle Kraft voraus« geschaltet, was mich kein bisschen wunderte. Diesmal fühlte ich mich aber nicht so einsam und verlassen, denn ich konnte ihre gelbe Wanderhose immer in fünfzig Metern Entfernung zwischen den Farnen und Brombeersträuchern an den Seiten des Pfades erkennen. Ab und zu drehte sie sich um und machte ein Foto von mir – vorzugsweise immer dann, wenn ich in der bewährten vorgebeugten Haltung meinen Atem beruhigte und Kräfte sammelte. Kompromittierende Fotobeweise, vermutete ich, damit ich nächstes Mal lieber die Klappe hielt, anstatt sie über die Kunst des Wanderns zu belehren.

Zu unserer Rechten erstreckte sich immer noch das Tal von Ribeira Brava. Das Hotel war zu einem winzigen Punkt unterhalb der Hochebene Paul da Serra geschrumpft. Am Ende waren wir heute noch nie allzu weit davon entfernt gewesen, die sechsstündige kräftezehrende Wanderung hatte uns lediglich auf die andere Seite des Talkessels gebracht. Das waren Dimensionen, die für meinen Verstand schwer verdaulich waren. Wie waren die Insulaner damit zurechtgekommen, als der Königspfad eine der wenigen, wenn nicht die einzige Verbindung zwischen den Küsten gewesen war? Für mich im aktuellen Zustand wäre es eine wochenlange Wanderung gewesen – vorausgesetzt, dass ich überhaupt irgendwann an der Nordküste angekommen wäre. Wie konnte sich ein kleines hilfloses Wesen Mensch gegen diese Naturgewalt behaupten? Dennoch, es gab ringsherum überall lauter Spuren des menschlichen Einflusses auf die Natur. Diesen Pfad hatte doch jemand vor Jahrhunderten mit primitivsten Mitteln in den Fels gehauen, oder? Baumaschinen und diamantbestückte Bohrer hatte er zu der Zeit nicht benutzt, da war ich mir sicher. Also wie? Wie hatte er es geschafft, diesem riesigen stolzen Berg den Felsvorsprung abzutrotzen, auf dem ich mich gerade abmühte. Was noch nicht in die Umgebung passte, war ein Windräderpark auf der Hochebene, den man aus dieser Perspektive sehen konnte. Windräder … Ja, sie verunstalteten heutzutage überall die Gegend. Aber waren denn qualmende Schornsteine besser? Ich konnte sie einfach wegdenken, um Paul da Serra als einen einsamen wüsten Ort auf dem Dach von Madeira in meiner Erinnerung zu behalten.

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Wandern auf dem Felsvorsprung
Wandern auf dem Felsvorsprung

Ich näherte mich der Stelle, wo der Pfad auf einem vorstehenden Felsen seine Richtung änderte und um den Berg herum auf seine andere Seite führte. Wie der Bug eines Schiffes ragte der spitz zulaufende Berg ins Tal hinaus und bot eine Gelegenheit für eine bezaubernde Aussicht. Angelina stand schon mit gezückter Kamera auf dem Vorsprung wie eine Galionsfigur. Als ich den Aussichtspunkt erreichte, fluchte ich und beschimpfte mit den allerletzten Wörtern die Brombeerzweige, die über den Weg wucherten und meine Unterschenkel in blutende Wunden verwandelten, aber das Panorama begeisterte mich derart, dass die schmerzenden Kratzer bald vergessen waren. Man konnte von dem kleinen Aussichtsplatz in drei Richtungen blicken. Rechts bewunderte man noch zum letzten Mal das Tal von Ribeira Brava. Unten vor uns lag eine tiefe Querschlucht, die oben am dritten Bergrücken ihren Ursprung nahm und bis zur Tunnelstraße nach unten führte. Was mich aber am meisten interessierte, war die Aussicht links. Dort öffnete sich eine breite Schlucht zwischen dem zweiten und dem dritten Grat. Allem Anschein nach verlief der Pfad im Uhrzeigersinn um diese Schlucht herum, um auf der anderen Seite auf die oberste Kante des Bergrückens zu führen. Am Kopf der Schlucht versperrte der mächtige Pico Grande die Sicht – besser gesagt, das, was von dem stolzen Berg zu sehen war: Eine senkrecht emporstrebende Felswand. Wie breit der Pfad entlang dieser Wand sein konnte, wollte ich mir nicht im Detail ausmalen! Auf dem gegenüberliegenden Hang dieses Tals entdeckte ich zwei kleine Gestalten, die den Pfad hochwanderten, ihre neonfarbenen Wanderjacken verrieten ihre Position. Woher sie kamen und wohin sie gingen, war mir ein Rätsel, denn sie wanderten in dieselbe Richtung und außer den Franzosen hatte uns keiner überholt. Dass wir sie auf eine wundersame Weise eingeholt haben sollten, konnte ich von vornherein ausschließen. Sie waren schon beneidenswert nahe zu der Stelle, die wie ein Bergscheitel aussah, von wo aus es auf der anderen Seite nach unten ging. Wir hatten dagegen noch zwei bis drei Kilometer zu wandern. Ach ja, ganz vergessen, sie lag zwei- bis dreihundert Meter höher. Meine Frau hatte also nicht so unrecht gehabt mit dem Pass hinter dem Berg, nur dass er im Moment kaum erreichbar schien! Ich suchte den Hang auch nach Jean-Luke ab. Nein, die Gruppe war nicht auszumachen. Kein Wunder, so gut in Form, wie sie waren, hätten sie schon in Funchal sein können.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 11.970
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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