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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 2

Sie wollte unbedingt einen Wanderurlaub machen. Ich wusste nicht, woher sie ihre Wanderlust hatte, denn bis jetzt hatten sich unsere Erkundungstouren am Urlaubsort in der Regel auf das normale Ausflugsprogramm der örtlichen Anbieter beschränkt – in einem bequemen Reisebus und mit einem Reiseleiter, der die wechselnden Bilder hinter dem Fenster ausführlich kommentierte und auch sonst viel Interessantes über Land und Leute wusste. Diesmal sollte es ein Urlaub mit Wanderungen auf eigene Faust werden. Ich hatte zugestimmt, denn die Beschreibungen und die Ansichten im Reiseangebot hatten bei mir den Eindruck eines einsamen Bergsteigerhotels am Pass entstehen lassen, das verloren zwischen gewaltigen Bergen abseits der Zivilisation lag, den Eindruck eines guten Ausgangspunktes für Wanderungen und Ausflüge in die Natur unter strahlend blauem Himmel!

»Hoffentlich liegt das Hotel nicht in diesen Wolken, oder?«, erkundigte ich mich beim Fahrer.

»Não, não, não!«, widersprach er schnell. »Es liegt tiefer und etwas weiter links!« Dabei nahm er wieder seine Hand zur Hilfe, um die genauere Position des Hotels auf dem Hang anzudeuten.

Diese Nummer mit dem Zeigefinger machte mich mittlerweile etwas nervös, vor allem bei Gegenverkehr, der gelegentlich in einer Kurve um die nächste Felswand auftauchte und für hektische Lenk- und Abbremsaktionen sorgte. Die Straße war zwar gut geteert, aber etwas eng geraten, sodass es zwischen zwei Autos kaum noch den nötigen Abstand gab, um im Notfall weg vom Straßenrand steuern zu können. Es gab kaum Leitplanken und etwa einen Meter rechts von der Straße ging es dreihundert Meter steil nach unten. Es gab nichts, was ein Auto beim Absturz hätte aufhalten können! Das ungute Gefühl irgendwo tief im Bauch verging auch dann nicht, als der Fahrer plötzlich auf die Bremse trat und das Fahrzeug zum Stillstand brachte. Ich sah vor dem Bus keine Straße mehr! Auf unserer Seite fehlten ungefähr sieben Meter Fahrbahn und man konnte durch die Windschutzscheibe ungehindert fünfhundert Meter nach unten blicken und den schnellen Verkehr auf der Zufahrt zum Passtunnel bewundern! Vermutlich war der Hang einfach abgerutscht und hatte die halbe Straße in den Abgrund mitgerissen. Wie lange dieses Stück Straße schon fehlte, konnte ich nicht sagen, aber bis jetzt hatten die Insulaner keine Maßnahmen ergriffen, um den Schaden zu beheben. Andere Länder hatten andere Sitten: Der Portugiese ließ sich durch den Vorfall nicht aus der Ruhe bringen und umfuhr nach kurzem Zögern das liebevoll mit Verkehrshütchen gekennzeichnete Loch über die linke Spur!

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Madeira: Pico-Grande-Massiv
Madeira: Pico-Grande-Massiv

Madeirenser sahen die ganze Sache mit den Bergen und den Straßen nicht so eng. Man kennzeichnete die gefährliche Stelle und hoffte darauf, dass keiner die Warnung missachtete. Und wenn jemand nicht aufpasste, wo er hintrat, dann war derjenige selber schuld! Es war die gängige Praxis in den Teilen der Welt, wo die Menschen ein innigeres Verhältnis mit der Natur hatten als ihre hochzivilisierten Zeitgenossen. Je einfacher die Leute ihr Leben gestalteten, desto mehr vertrauten sie dem gesunden Verstand und setzten ihn auch bei anderen voraus. Was war falsch an der Annahme, dass kein mehr oder weniger klar denkender Mensch auf die Idee kommen konnte, in einem seismisch aktiven Krater mit siedend heißem Wasser ein Bad zu nehmen? Nichts. Genau das dachten sich vermutlich auch die Isländer, wenn sie den Gefahrenbereich rund um die Dampf und Wasser speienden Geysire nur mit einer dünnen Schnur auf Kniehöhe markierten. Denn vor fünfzehn Jahren hatte ich dort keine nennenswerten Hindernisse gesehen, die die zahlreichen Besucher aus aller Herren Ländern davon hätten abhalten können, ihren Finger in einen Tümpel mit schwefelsäurehaltiger Brühe zu stecken. Warum sollte denn etwas daran verkehrt sein, wenn die Madeirenser die Ansicht vertraten, dass ein Autofahrer die Augen offen halten sollte, um eben nicht in ein Loch hineinzufahren? Dachte man darüber intensiver nach, stellte man mit Erstaunen fest, dass einem ziemlich schnell die Argumente ausgingen, wenn man versuchte, seine ablehnende Haltung zu dieser Vorgehensweise zu begründen, und man sah sich auf der Stelle mit einer Reihe anderer Fragen konfrontiert.

Verloren die Menschen in der zivilisierten Welt nicht zu viel von ihrer Eigenschaft, selbständig zu denken und eigenverantwortlich zu handeln? Warum erwarteten sie, dass jemand für sie Absperrungen baute und Verkehrshütchen aufstellte? Warum verzichteten sie vielerorts freiwillig auf einen bedeutenden Teil Ihrer angeborenen Freiheit der eigenen Entscheidung zugunsten vermeintlicher Sicherheit? Etwa um sich nach einiger Zeit in einer Welt wiederzufinden, wo man die Absperrungen schon ohne ihre Zustimmung errichtete? Es gab mehr Fragen als Antworten.

Unterdessen erreichten wir – dank der kunstvollen Ausweichmanöver unseres Steuermanns weitgehend unbeschadet – ein Bergdorf, das direkt an der Passstraße lag. Es war nicht viel los im Ort. Die Straßen waren fast menschenleer. Hier und da sah man ein Souvenirlädchen, das noch geschlossen war. Ins Auge fiel eine Reihe von sichtlich schon länger nicht mehr bewohnten Häusern mit verstaubten Fensterscheiben und Schildern "Para venda" – zu verkaufen – neben dem Eingang, sehr viele Kaufwillige gab es offenbar nicht. Wir hatten ungefähr zehn Uhr am Vormittag, aber die Dorfwirtschaft an der Hauptstraße war geöffnet. Zwei, drei Leute saßen draußen mit halbvollen Gläschen und unterhielten sich. Für ein Schnäpschen war es noch etwas zu früh, überlegte ich, während unser Fahrer wieder Kommunikationsbedarf verspürte.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 2
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 6.740
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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