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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 15
Wir warteten noch ein wenig, bis der Andrang am Eingang vorüber war, und hielten am Rande der betonierten Plattform Ausschau ins Tal: unser Hotel, die Serpentinenstraße, den Encumeadapass – jetzt mal aus einer anderen Perspektive. Ich stellte fest, dass der Turm auf dem Berg über dem Pass gar kein richtiger Turm war. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, war er in Wirklichkeit die letzte Spitze eines unterbrochenen Bergkamms, der vor dem Pass endete, um auf der anderen Seite als die Hochebene Paul da Serra seine Fortsetzung zu finden. Was vom Hotel aus wie ein Turm mit Sockel auf der Spitze des Pico Topeiro aussah, zog sich dahinter als ein Grat aus mehreren Bergspitzen weiter nach Osten. Das war eine Überraschung, die Geschichte mit dem Turm gefiel mir aber besser! Außerdem: Der Pico wurde von mir schon auf den Namen Turmberg getauft und es sollte auch bitte so bleiben, zumindest bis zum Ende des Urlaubs. »Ich glaube, ich werde die dicke Fleecejacke mal ausziehen. Es wird mir sonst zu warm!«, ließ mich meine Frau wissen und nahm sich den Rucksack von den Schultern ab. »Genau!«, lobte ich Angelina für den guten Einfall. »Das mache ich auch mal. Man kann sich auch schon eine kurze Hose anziehen. Super. Die Franzosen sind hier gleich alle weg, dann können wir uns unbehelligt umziehen.« Als wir vor einer guten Stunde unten am Hotel gestartet waren, bedeckte noch Morgentau die Pflanzen am Straßenrand, die klare frische Bergluft war noch ziemlich kühl, sodass wir die Wanderung in voller Montur antreten mussten, um nicht zu frieren. Inzwischen hatte aber die steigende Sonne die umliegenden Felsen erwärmt, vor allem hier, auf dem nach Osten gerichteten Hang, und ließ die schwere Kleidung als ein Hindernis empfinden. Wir fühlten uns auch gleich leichter und freier, nachdem wir die unnützen Sachen abgelegt und in den Rucksäcken verstaut hatten. Mittlerweile waren auch alle Tunnelfreunde unter dem Berg verschwunden oder schon auf der anderen Seite hinausgekommen und die Öffnung in der Felswand stand einladend frei. Nur ein junges deutsches Paar kam gerade die Levada hoch und beschäftigte sich mit der Suche nach ihrer Taschenlampe. Ich machte den letzten Check unserer Lichtquelle aus dem Billigwarenladen und wir stiegen in den dunklen Gang – ich mit Karte und Taschenlampe vorne und Angelina mit Fotokamera, befestigt an ihrem Hosengürtel, hinter mir.
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![]() Pass Encumeada und der Turmberg Die ersten dreißig Meter waren etwas eng. Ich musste immer den Kopf einziehen, um heil zu bleiben, und auf die linke Schulter achten, damit sie nicht an der nach oben gewölbten Tunnelwand hängen blieb. Sie war erwartungsgemäß nicht glatt geschliffen, sondern von scharfen Felskanten überzogen, sodass man sich ohne Probleme eine tiefe Fleischwunde hätte einhandeln können. Nur eine Taschenlampe für zwei war auch nicht die beste Voraussetzung, um den Tunnel unbeschadet zu durchqueren, denn ich hatte dauernd Angst, dass Geli bei einem Fehltritt im Wasserkanal schwimmen ging. Doch im weiteren Verlauf wurde der Tunnel breiter und die Decke höher, man hätte bald bei Gegenverkehr ungehindert aneinander vorbeilaufen können. Das Wasser floss lautlos, unsere Schritte und Stimmen verhallten gedämpft, das Licht der Taschenlampe entriss der kompletten Dunkelheit einige Meter beleuchtete Fläche. Und sonst gab es nichts, bis auf die Mitwanderer natürlich. Das junge Pärchen, das zwei Minuten nach uns den Tunnel betreten hatte, verriet seine Anwesenheit durch die Taschenlampe, die einhundert Meter hinter uns in der Dunkelheit aufblitzte. Levada do Norte – das Hinweisschild, das ich gestern nicht bemerkt hatte, sah ich heute zufällig gegenüber dem Berghof. Darauf stand auch der Schriftzug »Folhadal«. So hieß das Tal, oder was auch immer es war, auf der Nordseite, die wir in Kürze erreichen sollten, und die Bezeichnung Levada do Norte bezog sich auf den Wasserkanal, der durch diesen wunderschönen, schnurgeraden Tunnel mit einer gut ausgebauten Levadaschulter führte, die uns ein zügiges Vorankommen ermöglichte. Der weiße Fleck vorne wurde immer größer, wir näherten uns dem Ausgang. Bald war auch die Taschenlampe nicht mehr notwendig, das Licht, das durch die Öffnung in den Tunnel fiel, reichte, um nicht in den Graben zu treten. Die sechshundert Meter unter dem Berg hatten wir in einer Viertelstunde geschafft, so als wären wir auf einem Bürgersteig spazieren gegangen. Wir kamen ins Freie und erkannten die Insel nicht wieder. Vor unseren Augen lag eine Märchenwelt: Das saftige Grün der in eine dicke Moosdecke eingewickelten Pflanzen überraschte durch seine Intensität, wie kleine Perlen, die im Geäst der verwunschenen Bäume hingen, glitzerten Wassertröpfchen in der feuchten, warmen Luft. Über unseren Köpfen kreisten bunte Schmetterlinge und ich war nicht weit davon entfernt zu glauben, dass sie sich gleich in einen Schwarm Elfen verwandelten. Und sprang da nicht gerade ein kleiner grüner Kobold über die Levada? Nein? … schade, es war nur ein seltsamer Vogel gewesen. Aber das da! War das nicht ein hässlicher böser Troll unten am Hang! Ach, nein … nur ein bemooster Baumstumpf. Urgeschichtlich anmutende Farne und Lorbeeren bewucherten den Hang und hingen tief über die Rinne der Levada do Norte, die ihr Wasser gemächlich zwischen den moosbedeckten Betonwänden führte. Im klaren Wasser bewegte sich etwas Graues. Eine Familie handgroßer Bachforellen trieb ihre Morgenspielchen im Schatten des blühenden Dschungels. Durch die wenigen Lücken im Baumkronendach sah man in der Ferne Fragmente des Tals von São Vicente, ein Ort an der Nordküste, und noch weiter das tiefe Blau des Atlantiks, der seit Jahrtausenden seine kalten schäumenden Wogen auf das Eiland heranrollen ließ und den feuchten kühlen Nordwind brachte, der das Märchenparadies um uns herum geschaffen hatte.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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