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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 120
Das Hotel war für die Verhältnisse von Ribeira Brava wirklich ziemlich groß, musste ich feststellen, als wir über den Kreisel zurück zur Uferpromenade gingen, während ich mir das Gebäude etwas genauer ansah. Es war ein wuchtiges Haus mit fünf Stockwerken im Stil der neunzehnhundertsiebziger Jahre. Es war in graubraunen Tönen gehalten und passte eigentlich schlecht zu den umliegenden Altbauten der historischen Stadtmitte, doch zu meinem Erstaunen fügte es sich sehr harmonisch in das Stadtbild ein. Es war anzunehmen, dass die meisten Gäste der munizipalen Badeanlage im Ort hier Quartier nahmen. Die großen Fassadenfenster mit zugezogenen Vorhängen im ersten Stock ließen dahinter ein Hotelrestaurant vermuten, das morgens den Gästen ein Frühstück mit Aussicht auf den endlosen Ozean anbot und zurzeit vor der Sonne geschützt wurde. Mir gefiel auch der ganze Ort. Er hatte mehrere positive Eigenschaften, die für mein Empfinden eine große Rolle spielten. Zum einen war die komplette Innenstadt flach wie ein Teller. Ebenerdig war absolut alles zu erreichen, was das Herz eines Touristen begehrte. Zum anderen gab es zahlreiche Gelegenheiten für einen Mittagstisch, die manchmal dermaßen günstig – um nicht zu sagen spottbillig – waren, dass man sich zuweilen fragte, ob der Wirt für jedes Essen nicht noch etwas draufzahlte, geschweige denn, etwas daran verdiente. Die Stadt hatte einen Supermarkt, den einen oder den anderen Künstlerladen, kleine private Lebensmittelgeschäfte, Bars und anspruchsvolle Restaurants. Nicht zu vergessen war auch der Strand! Egal, wie viele Kieselsteine darauf lagen! Wie ein Magnet zog er Touristen aus der Umgebung an und bescherte den örtlichen Gewerbetreibenden gute Umsätze. Die Einwohner kannten allem Anschein nach keine Siesta. Wir waren den ganzen Nachmittag kreuz und quer durch die Stadt geschlendert und ich hatte keine Anzeichen dafür gesehen, dass jemand vorhatte, seinen Laden zu schließen. Und die Stadt war authentisch alt. Richtig alt. So alt, wie Vasco da Gama gewesen wäre, wenn er heute noch einmal die Segel gesetzt hätte, um einen weiteren, unbekannten Seeweg nach Indien zu entdecken. Kurz, wenn ich gefragt worden wäre, wo ich einen Badeurlaub auf Madeira gerne verbracht hätte, wäre meine Antwort eindeutig gewesen: Ich hätte Ribeira Brava allen von mir besuchten Orten vorgezogen, die mehr oder minder im Küstenbereich lagen.
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![]() Kirchplatz in Ribeira Brava Der Busbahnhof sah immer noch so aus wie der Bahnhof, den wir seit unserem Ausflug nach Funchal kannten. Zugegeben, es fehlte heute der stolze portugiesische Expeditionsanführer mit der ausgebreiteten Landkarte in den Händen und seine Frau, die ihm ständig in die Quere kam, aber es war auch sonst viel los am Bushaltepunkt. Es gab eine Menge von Leuten, die sich auch ohne Landkarte sicher waren, dass der Bus, auf den alle ungeduldig warteten, sie zum richtigen Ziel brachte. Dabei stand diese Busverbindung nicht einmal im offiziellen Fahrplan, sondern nur auf dem geheimen Zettel von meiner Frau und vermutlich auf ähnlich bekritzelten Papierfetzen anderer Fahrgäste – bis auf die »Seidenen Blusen«, sie kamen ganz gut ohne Notizen zurecht. Wir hatten fünf Uhr und der Bus stand eigentlich schon bereit, ein Stückchen entfernt von dem Bussteig, aber seine Türen blieben verschlossen, der Fahrer saß in der ersten Sitzreihe und las eine Zeitung. Nein, es war nicht der Busfahrer, der an jeder Haltestelle die Gegend mit der Ansage »Funchal« beschallte, die kleine Volksbelustigung fiel heute aus. Zehn Minuten mussten sich noch alle gedulden. Unter anderem eine kleine Mädchenschar, die viel Lärm und Hektik verursachte. Die Kinder, höchstens dreizehn, vierzehn Jahre alt, sprachen einander auf Englisch an, sahen aber leicht afrikanisch aus. Es war kein Oxfordenglisch, genauso wenig wie seine nordamerikanische Varietät. Bei Klangbildern anderer Mundarten dieser Sprache war ich mir nicht sicher, ich hätte einen Schotten nicht von einem Australier unterscheiden können. Doch die Mädchen mussten einer der wohlhabenden Industrienationen angehören, denn: Wie viele Kinder aus den Slums von Mumbai machten schon Urlaub auf Madeira? Ein Mädchen holte aus der Jeanstasche Kleingeld heraus, setzte sich auf den Bordstein und fing an, Ein- und Zweicentmünzen auszusortieren. Erreichen wollte sie anscheinend, dass auf der Hand nur Kleingeld in ihrer Landeswährung liegen blieb. Dabei pickte sie einzelne Geldstücke mit den Fingern von der Handfläche und warf sie einfach auf den Bürgersteig. Es stimmte mich nachdenklich. Unvermittelt dachte ich an meine weniger erfolgreichen Zeiten zurück. Es hatte bei uns mehrfach harte Lebensabschnitte gegeben, in denen es wirklich auf jeden einzelnen Cent ankam und man immer aufs Neue lernen musste, jedes Geldstück dreimal umzudrehen, bevor man es ausgab. Eigentlich war es uns die meiste Zeit so ergangen, wenn ich mir es richtig überlegte, bis vielleicht auf ein paar seltene Episoden, wenn das Schicksal seinen Griff lockerte und einen frei durchatmen ließ. Mir fehlten seit meiner Jugend immer diese elenden Geldscheine, um genügend freie Zeit dafür zu haben, den tristen Alltag hinter sich zu lassen und den Geist auf Reisen zu schicken, Werke großer Denker zu lesen und Stücke herausragender Komponisten zu hören, etwas zu erschaffen und etwas zu ergründen. Stattdessen hatte ich mich mit dem Studium unnützer Wissenschaften befasst oder wie ein Irrer an den Absperrschiebern der Pipeline einer Ölraffinerie gedreht, ich hatte mich nützlich in dubiosen Handelskontoren gemacht oder mein Glück als Weinverkäufer und Handelsreisender versucht. Es hatte alles nichts geholfen. Man war in einem circulus vitiosus gefangen, aus dem es kein Entrinnen gab: Je mehr man sich bemühte, Geldmittel anzuhäufen, um sich seine Unabhängigkeit zu erkaufen, desto abhängiger wurde man. Der Weg verwandelte sich zum Ziel, man musste ihn immer weiter gehen, für solch »dumme« Sachen wie Kreativität blieb am Ende gar keine Zeit. So konnte es nicht funktionieren. Mit der Zeit hatte ich eingesehen, dass ich mich damit begnügen musste, was mir zur Verfügung stand. Es war nicht viel, aber gerade noch genug dafür, um das eine oder das andere aus dem Boden zu stampfen, wenn man nicht verschwenderisch damit umging, was man hatte. Nur dass die Inspiration eine sehr launische Dame war, sie kam und ging, wie sie wollte, und sie war menschenscheu wie ein kleines, schüchternes Reh.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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