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Der Brockenwicht: Seite 75
Der Mann, der die kleine Kolonne schloss, wischte sich mit beiden Händen das Wasser aus dem Gesicht, sah mich an mit seinem trüben Blick an und hob die Daumen, als wollte er mir sagen: »Prächtig!« Seinen Sinn für Humor hatte er allem Anschein nach noch nicht ganz verloren, aber er sprach kein Wort, dazu hatte er vermutlich keine Kraft mehr. Die Frau hatte meiner Meinung nach erst gar nicht registriert, dass wir mit Geli abseits des Betonwabenweges standen. »Und eine tolle Aussicht!«, rief ich ihnen noch hinterher und glaubte selbst nicht, dass sie mich noch gehört hatten. Es war auch besser so, den letzten Satz hatte ich mir schlecht überlegt. Wer wusste, wie er das Wort »Aussicht« auslegen würde – ob damit der wenig erquickende Ausblick auf die graue Gegend gemeint war oder ich eher Anspielungen auf ganz spezielle körperliche Eigenschaften seiner Partnerin machte? Erbsengroße Regentropfen trommelten immer noch gleichmäßig gegen das hölzerne Vordach der Infotafel, wenngleich sich die Wolkendecke merklich gelichtet hatte und die Bauten auf der Brockenkuppe hin und wieder zwischen den Schwaden als einzelne Fragmente zum Vorschein kamen. Sogar der untere Teil des Sendemastes schimmerte durch die nebelige Suppe. Es war schon eine Viertelstunde vergangen, seitdem das Wanderpärchen oben am Ende des Betonplattenweges verschwunden war, aber wir hatten uns bislang nicht getraut, den Unterschlupf zu verlassen. Ich entschloss mich endlich dazu, als wir festgestellt hatten, dass das Dach über unseren Köpfen alles andere als dicht war. Der Regen traf die Konstruktion nunmehr in einem anderen Winkel und durch die Ritzen zwischen den Brettern drang Wasser ein und tropfte auf unsere Köpfe. Es machte keinen Sinn mehr, hier zu bleiben, das Vordach hatte seine schützende Funktion verloren. »So«, sagte ich, »wir können es mal versuchen! Wenn wir schnell sind, kriegen wir vielleicht nicht so viel ab. Und ich glaube, das klein bisschen Regen spielt auch keine große Rolle mehr, so klatschnass, wie wir ohnehin schon sind.« »Brockenhaus« war das einzige mir vertraute Wort, das auf einem der Wegweiser an der Kreuzung stand. Ich folgte dem Richtungspfeil und Geli folgte mir, ohne ein Wort zu sagen. Es kam noch Einiges an flüssigem Nachschub von oben, während wir im Laufschritt über Pfützen und Rinnsale auf dem Rundweg sprangen, sodass alles an uns klitschenass wurde, was noch halbwegs trocken war. Der Regen nahm abermals zu in dem Augenblick, als wir den langersehnten Abzweig zum Brockenhaus zu Gesicht bekamen.
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Man musste es Harry lassen, der Anblick des Gebäudes mit dieser Bezeichnung, von denen es auf dem Brocken im Laufe der Jahre wohl mehrere gegeben hatte, ließ nach wie vor ein unbeschreibliches Freudegefühl aufkommen. Die offene Tür des Eingangs an der gläsernen Fassade des Brockenhauses, hinter der sich auf engstem Raum Ausflügler drängten, die Schutz vor dem Unwetter suchten, versprach sichere Zuflucht und ein festes Dach über dem Kopf. Wir nahmen das Angebot an, ohne auch nur einen winzigen Augenblick zu zögern! »Lauter Leben und Bewegung« hatte Harry Heine in der Wirtsstube vorgefunden, als er nach dem beschwerlichen Aufstieg im Brockenhaus abgestiegen war, und nicht minder lebendig ging es im Besucherzentrum des Nationalparks zu, das gleichzeitig auch als Foyer des Brockenmuseums diente, als wir mit Geli das Brockenhaus betraten. Es war etwas eng, der Raum war für so viele Besucher nicht ausgelegt. Die Heizung lief auf Hochtouren, die Wärme tat gut. Jeder versuchte, seine Kleidung irgendwie auf den heißen Heizkörpern aufzuhängen, um sie einigermaßen trocken zu bekommen. Das Pärchen von vorhin stand ebenfalls zähneklappernd in einer Ecke, das Tier lag ruhig auf dem gefliesten Boden und beobachtete das bunte Treiben mit seinen traurigen Hundeaugen. Im Minutentakt gingen Plastikregenjacken über den Tresen, die etwas von großen Müllbeuteln an sich hatten, bei denen auf der Unterseite ein Loch zum Durchschieben des Kopfes ausgeschnitten war, – heute ein richtiger Verkaufsschlager! Touristen, die die improvisierte Regenschutzbekleidung kaltließ, beschäftigten sich mit der Begutachtung von Brockensouvenirs: Tassen, Hexen, T-Shirts und Ansichtskarten. Es gab auch Gäste, die Tickets für die Ausstellung zur Geschichte und Natur des Berges bei der Frau an der Kasse kauften und hinter der Tür ins Museum verschwanden. Draußen stürmte es und regnete wieder in Strömen. In einer Ecke unter der Treppe, die entlang der gläsernen Fassadenwand nach oben führte, hatte sich eine kleine Gruppe von Zuhörern um einen jüngeren, kräftig gebauten blonden Mann versammelt, der ihre volle Aufmerksamkeit genoss, während er der Gesellschaft etwas mit Hingabe erzählte. Bisweilen lachten alle auf und verstummten wieder mit gehörigem Respekt, wenn der Redner mit seinem Vortrag fortfahren wollte. Er war gekleidet in einen sehr langen dunkelbraunen Regenmantel, der fast bis zum Boden reichte, und trug einen hochwertigen Westernhut aus Büffelleder in gleichem Farbton.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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